Gewalt gegen Ärzte

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Jeder sechste Kollege verprügelt

Dass Ärzte in ihrer Praxis oder Klinik verprügelt oder verletzt werden, ist offenbar nicht gerade selten. Zwar hört man immer nur von den spektakulären Fällen, wenn Patienten mit Hammer, Schere oder Schwert auf Kollegen losgehen. Doch die Dunkelziffer ist hoch. Eine wissenschaftliche Untersuchung geht davon aus, dass jeder sechste Internist schon mal verprügelt wurde. MMW-Autor Bernhard Mäulen beschreibt, was so alles passieren kann, und gibt Tipps zum richtigen Verhalten in brenzligen Praxissituationen.

Während meiner Ausbildung galt ein Angriff durch einen Patienten als ,,Feuertaufe”, als “Ritterschlag des Psychiaters” oder wie die Euphemismen sonst noch hie8en. Eine Anleitung zur Verhinderung aggressiver Übergriffe, zum Selbstschutz in gefährlichen Situationen oder gar eine Besprechung nach einer bedrohlichen Attacke habe ich so gut wie nie erlebt. Offenbar galt und gilt es als Selbstverständlichkeit, dass Ärzte und Ärztinnen in einer Gefahrensituation schon das Richtige tun werden. Dass dies nicht der Fall ist, belegen die zum Teil herben Schicksale zahlreicher verletzter oder getöteter Ärzte.

Haben Sie sich im Beruf schon einmal bedroht gefühlt?

Offenbar steigt die Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft allgemein und speziell gegenüber Ärzten. Von amerikanischen Verhältnissen sind wir zum Glück aber noch weit entfernt – dort erschoss beispielsweise in letzter Zeit ein Bewaffneter gleich drei Psychiater, und militante Abtreibungsgegner sprengten ganze Kliniken in die Luft und erschossen ein Dutzend Abtreibungsärzte.

Die gewaltgeprägten Erlebnisse von Ärzten und Ärztinnen decken so gut wie alle Bereiche des Vorstellbaren ab. Die subjektive Einschätzung einer Äußerung oder Tat eines Patienten als aggressiv variiert stark von Arzt zu Arzt. Jeder Arzt hat seine eigene Gewaltgeschichte. Nicht wenige Kollegen mussten – wie der Verfasser – in Kindheit und Jugend persönliche traumatisierende Gewalterfahrungen machen. Entsprechend ist das Ausmaß an Angst bzw. Vertrauen angesichts einer Bedrohung außerordentlich verschieden. Da gibt es geschickte Assistenzärzte und völlig überforderte Chef- oder Oberärzte; da gibt es niedergelassene Kollegen, die auch nachts in Wohnblöcke in sozialen Brennpunkten gehen, während andere dies nicht einmal am Tag tun würden. Schon Kraepelin beobachtete vor ca. 100 Jahren: ,Wir hatten mehrere Kranke, deren Besuch jedes Mal eine Art Wagnis darstellte”.

Vielleicht überlegen Sie selbst einmal, bevor Sie weiterlesen: Haben Sie in Ihrer beruflichen Tätigkeit schon einmal eine bedrohliche Situation erlebt? Wie haben Sie das Erlebnis bewältigt?

Verbale und körperliche Attacken

Die harmloseste Variante sind verbale Attacken, die viele Kollegen in der einen oder anderen Art schon mal erlebt haben dürften: “Ich bring Sie um”, “Dich mach ich kalt”; mit direkter Beleidigung: “Sie Depp”, ,Sie A…”, blöder Wichser”; mit Herabsetzung des persönlichen Könnens ,,So eine besch… Naht hat mir noch keiner gemacht” ,,Geben Sie doch Ihre Zulassung zurück, Sie Pfuscher”; mit sexuell übergriffigem Ton: “Ich glaube, Ihnen müsste man’s mal so richtig besorgen”, oder Drohungen der Anzeige: “Sie zeig ich an, Sie melde ich dem Gesundheitsamt; morgen können Sie Ihren Namen in der Zeitung lesen.”

 

Meist werden uns solche Äußerungen, eventuell noch im Beisein anderer ausgesprochen, innerlich nicht völlig kalt lassen, gelegentlich Ängstigen oder extrem wütend machen. Obwohl beleidigt und verletzt sollen wir aber nicht aus der Rolle fallen. Dies ist nicht leicht und kann auch nicht von jedem Mitarbeiter und jeder Mitarbeiterin verlangt werden. So etwas sollten wir auch von uns selber nicht in jedem Fall fordern. Es gibt Grenzen, was mann/frau als Arzt/Ärztin mitmachen sollte. Erlauben Sie anderen und sich selbst nicht, das Gesagte zu bagatellisieren. Zum einen kann verbaler Gewalt auch tätliche folgen, zum anderen können Worte uns ebenso tief erschüttern und treffen wie Schläge!

Als Arzt erwarten wir in der Regel nicht, angegriffen zu werden. Und doch haben Kollegen im Rettungsdienst, in den Notaufnahmen, in der Psychiatrie, allgemein in der Behandlung von Betrunkenen häufige Berührung mit Gewalt. Als junger Assistenzarzt wurde ich von einer Patientin der geschlossenen Abteilung mit voller Wucht in den Allerwertesten getreten. Der körperliche Schmerz war bald vorbei, wesentlich länger musste ich mit dem Gefühl von Unsicherheit und Schock – ich hatte den Angriff nicht kommen sehen – auseinander setzen. Die Formen der -tätlichen Gewalt umfassen vieles: Messerstich, Schusswaffen, Schläge mit Gegenständen (Stuhl, Infusionsständer, Aschenbecher, abgebrochene Flasche), brennende Zigaretten, Bisse, Schläge, Beschädigung des Autos eines Arztes etc.

Wie reagieren wir?

Unsere erste Antwort, unsere emotionale Reaktion kommt “aus dem Bauch” meist in Form von Gegenaggression, Schock, lähmender Angst oder Schmerz. In Gesprächen mit Kollegen nach Gewalterfahrung höre ich oft die völlige Überraschung: “Ich hätte nie gedacht, dass mir so etwas passieren kann.” Andere Ärzte berichten über plötzliche Bilder im Sinn eines Flashbacks, Unkonzentriertheit, Schreckhaftigkeit oder psychosomatische Symptome.

Es hat den Anschein, als wären wir Ärzte auf solche Erfahrungen schlecht vorbereitet – was wir ja auch sind. So fehlen uns kollegiale Unterstützungssysteme, lähmen uns Überansprüche unreflektierter Helferideale. Die Generation der Ärzte, die etwa aus dem Kriegserlebnis heraus mit Gewalt umgehen konnte, steht als Vorbild kaum noch zur Verfügung. Zusätzlich belastet es die angegriffenen Ärzte oft, dass sie sich selbst die Hauptverantwortung geben, so als hätten sie persönlich und beruflich versagt. Leider gibt es auch innerhalb der Ärzteschaft durchaus hämisch kritische Bemerkungen, die den Kollegen dann endgültig niederdrücken.

Jeder sechste Internist wird verprügelt

Das Thema wurde lange Zeit in der Forschung vernachlässigt, doch inzwischen liegen auch einige Beiträge aus Deutschland vor (Steinert, Frommberger). Sie zeigen: In der Praxis wie in der Klinik sind Aggressionen keine Seltenheit. Es gibt eine enorme Dunkelziffer. Eine sorgfältige Multizenterstudie in Deutschland ermittelte, dass Ärzte nur einen kleinen Teil der Gewaltvorfälle melden (meist die mit Sachbeschädigung), während selbst bei Einsatz spezifischer Fragebögen ca. 80% der Vorfälle nicht weitergegeben werden.

In einer Befragung von 127 Ärzten aus vier Psychiatrischen Krankenhäusern durch Steinert et. al berichteten 20% der Ärzte von einem oder mehreren körperlichen Angriffen binnen Jahresfrist. Ärzte wurden dabei etwas häufiger als Ärztinnen Opfer aggressiver Handlungen der Patienten. In einer retrospektiven Befragung von Internisten ermittelte Paola, dass 41% von ihren Patienten bedroht und 160/o tätlich aggressiv geschlagen wurden.

Risikozone Hausarztpraxis

Übereinstimmung herrscht bei allen Untersuchern, dass Notaufnahmeabteilungen, Psychiatrische Arbeitsfelder und Hausarztpraxen die höchste Gefahr bergen. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie intoxikierte, erregte, zum Teil bewusstseinseingeschränkte Patienten ohne wesentliche Vorselektion behandeln müssen. Darüber hinaus gibt es Spezialbereiche mit erhöhter Gefahrenlage: Arbeitsfelder am Rande von Ghettos oder an sozialen Brerinpunkten wie z. B. das frühere Hafenkrankenhaus in Hamburg. In den USA leben Kollegen, die Abtreibungen vornehmen, besonders gefährlich. Dort wurden mehr als 150 Abtreibungskliniken beschossen oder angezündet.

 

Was bringt Patienten zum Toben?

Angreifende Patienten sind oft erregt, gespannt und durch Alkohol aggressiv enthemmt. Sowohl männliche wie weibliche Patienten verüben Gewalt, wobei Frauen häufigere, Männer dagegen schwerere aggressive Handlungen begehen (Frommberger). Diagnostisch findet man bei aggressiven Patienten/-innen neben Suchterkrankungen auch Psychosen, hirnorganische Abbauprozesse und Persönlichkeitsstörungen. Wichtig zu wissen: Viele Patienten, die aggressiv werden, haben in der Anamnese bereits Ähnliche Vorfälle.

Nicht immer besteht ein Gewaltvorsatz seitens des Patienten a priori, häufig spielen situative Komponenten (unflexible Regelungen, kein Fluchtweg, Eskalation des Gespräches, Starrheit des Arztes, unzureichende Erklärung dessen, was passiert) eine wesentliche Rolle in der Zuspitzung einer Situation bis zur Gewalttat.

 

Dr. Bernhard Mäulen
Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie,
St. Nepomukstr.1/2,
78648 Villingen

Aus: MMW-Fortschr.Med. 6 Nr. 43 / 2000 (142. Jg.)