Tod und Sterben

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Leben, Tod und Übergang
Das Arbeitskonzept von Elisabeth Kübler-Ross

Der Autor berichtet aus eigener Anschauung über die praktische Arbeit von Dr. Elisabeth Kübler-Ross. Eine zentrale Rolle in dieser Arbeit kommt dem Kurs ,,Leben, Tod und Übergang” zu. In diesem fünftägigen Intensivkurs für Laien, Ärzte, Krankenschwestern, Priester und Sterbende berichtet Dr. Ross von ihren Erfahrungen und Arbeitskonzepten. Daneben haben die Kursteilnehmer umfassende Gelegenheit, ihre eigenen Probleme im Umgang mit Tod und Sterben auszudrücken und zu verarbeiten. So leistet der Kurs einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der ablaufenden Prozesse und ermöglicht den Zugang zu erweiterten, angstfreien Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit Sterbenden und deren Angehörigen. Kernpunkt dieses freieren Umganges ist das Annehmen und Ausdrücken von Gefühlen.

Elisabeth Kübler-Ross und ihre Pionierarbeit bei der Begründung einer zeitgenössischen Thanatologie ist vielen Menschen in Deutschland ein Begriff, seit sie mit ihrem Buch ,Interviews mit Sterbenden” weltweites Aufsehen erregte. Inzwischen fanden weitere Bücher wie der kürzlich veröffentlichte Bildband “Leben bis wir Abschied nehmen” und die Biographie der Ärztin breiten Eingang in Fach- und Laienkreise.

Von daher darf unterstellt werden, daß Grundaussagen ihrer Arbeit, wie z. B. die der phasengebundenen Reaktion Sterbender auf ihre Erkrankung (I Nichtwahrhaben-Wollen / II Zorn / III Verhandeln / IV Depression / V Zustimmung) vielen Lesern bekannt sind. Weitgehend unbekannt dürfte demgegenüber die gegenwärtige praktische Arbeit von Dr. Kübler-Ross und der von ihr gegründeten Organisation ,Shanti Nilaya” (d. h. Haus des Friedens) sein, an der der Verfasser während eines mehrmonatigen Aufenthaltes in den USA teilnehmen konnte. Ziel dieses Artikels ist es, unter Einbeziehung persönlicher Erlebnisse über die Inhalte ihres Workshops zu berichten.

“Life, Death and Transition”, also Leben, Tod und Übergang ist die Bezeichnung, die Elisabeth Kübler-Ross ihren fünftägigen Workshops gegeben hat. Diese Kurse werden von ihr seit mehreren Jahren in der ganzen Welt gehalten und verstehen sich als Angebot an jene, deren Arbeit oder persönliche Situation eine intensive Auseinandersetzung mit dem Prozeß des Sterbens, seinen Problemen und seinen Chancen wünschenswert oder dringend notwendig machen. Entsprechend den vielfältigen Zugängen zu diesen Problemen bilden die durchschnittlich etwa 70 Teilnehmer eine sehr heterogene Gruppe. Es ist eine tief beeindruckende Erfahrung mitzuerleben, wie aus dieser groben Ansammlung von Menschen durch intensive Arbeit binnen weniger Tage eine Gruppe wird. Viele Teilnehmer sind überrascht, in welchem Ausmaß Offenheit, Wärme und Nähe sie hier Ängste überwinden lassen, die sie oft für Jahre als trennende Mauer gegenüber den Mitmenschen erlebten, und wohl alle erstaunen angesichts des ungeahnten persönlichen Wachstums, dessen der sterbende Mensch fähig ist.

Eröffnet wird der Kurs damit, daß sich die Teilnehmer kurz vorstellen, angeben, warum sie gekommen sind, was sie für sich erwarten. Hierbei werden oft wesentliche Motive nicht erkannt oder genannt und statt dessen gesellschaftlich akzeptable Erklärungen vorgezeigt. Darum schließt sich als nächstes eine Phase an, in der jeder mit bereitgestellten Materialien ein Bild eigener Wahl in etwa zehn Minuten zeichnet.

Diese Bilder werden daraufhin gedeutet – in Anlehnung an ein von der Engländerin Susan Bach, einer Psychologin Jungscher Schule, entwickeltes Interpretationssystem. Elisabeth Kübler-Ross zeigt, wie sowohl unsere gegenwärtige Situation als auch Ereignisse aus früheren Jahren in unserem Bild zum Ausdruck kommen. Ihre Aussagen sind dabei sehr präzise, erinnern womöglich an längst Vergessenes und vermitteln Einsicht auch in un- oder halbbewußte Motive, die den Zeichner zur Teilnahme an ihrem Workshop veranlaßten. In meinem Fall war dies der frühe Tod meiner Mutter, an den ich über Jahre hinweg kaum gedacht hatte, dessen immense Bedeutung für mein Leben aus der Zeichnung jedoch ersichtlich wurde. Dieses frühe, einschneidende Verlusterlebnis sei für mich der Grund gewesen, so sagte Elisabeth Kübler-Ross, an dem Workshop teilzunehmen; und in der Tat sind im weiteren Verlauf der Woche viele nicht verarbeitete Ängste und verdrängte Trauergefühle aus dieser Zeit spürbar geworden.

Besonders beeindruckend sind die Zeichnungen sterbender Kinder. Aus ihnen wird nicht nur das Wissen um den bevorstehenden Tod klar ersichtlich, sondern darüber hinaus auch die Einstellung der kleinen Patienten zu diesem Ereignis, die für Erwachsene oft überraschend angstfrei und annehmend sind. Hier, wie auch bei älteren Personen stellt sich dann häufig die Frage, wer eigentlich vor dem Tod eines Menschen zu schützen sei.

Sterbende Patienten haben ihre eigene symbolische Sprache

Wie nun können wir uns mit dem Patienten verständigen, ihn an dem persönlichen Standort in seinem Krankheitsgeschehen erreichen? Die Antwort von Dr. Kübler-Ross ist, daß sterbende Patienten ihre eigene symbolische Sprache haben, und daß es für eine Verständigung ausschlaggebend ist, diese zu verstehen und ebenfalls zu gebrauchen. Sie zeigt den Kursteilnehmern in bewegenden Erzählungen, wie die Symbolik aussehen kann, in welcher Weise die Patienten sie dazu einsetzen, sich nur an die als Gesprächspartner zu wenden, die das ertragen können, und alle anderen zu schonen. Mit Hilfe der symbolischen Sprache kann selbst in Gegenwart Dritter ein vollkommen vertrauliches Gespräch geführt werden. Der Sterbende kann dann von einem rasend schnell bergab fahrenden Zug sprechen, ohne daß Unbeteiligte wissen, daß dies ein Bild für sein schnell verlöschendes Leben ist; und die Frage ,Können Sie den Zug vielleicht etwas aufhalten?” meint ,Können Sie mir helfen, noch etwas Zeit zu gewinnen?” Vielleicht kann der Sterbende – in einem weiteren Bild – ausdrücken, warum die Zeit so wichtig ist, was noch geschehen soll, bevor der Zug endgültig im Tale des Todes zum Stillstand kommt. Damit hätte der Sterbebegleiter die Möglichkeit, einen letzten Wunsch des Sterbenden zu erfüllen, ihm zu helfen, sein Leben wirklich abzurunden.

Immer wieder taucht diese Bitte um etwas Zeit in den Gesprächen Sterbender mit Dr. Kübler-Ross auf. Manche sagen: ,Wenn ich jetzt sterbe, dann sterbe ich ohne mein Leben jemals richtig gelebt zu haben.” Viele, die ihr Leben rückschauend betrachten, erkennen Ängste, Schuldgefühle und Selbstunterdrückung als Haupthindernisse, die zwischen sich und dem, was sie erträumen, stehen.

Niemand aber kann uns unser Leben geben. Wir selbst müssen den Mut aufbringen, darum zu kämpfen. Aus dieser Einsicht hat Dr. Kübler-Ross die Konsequenz gezogen und einen großen Anteil ihres Workshops für die Bearbeitung von Ängsten und Schuldgefühlen konzipiert. Ihre bewegenden Erzählungen machen jedem Teilnehmer klar: ,Auch für dich wird die Uhr ablaufen!” und erreichen dadurch eine spezielle Motivation. Diese Motivation, verbunden mit konkreten Problemen, die Anlaß waren, den Kurs überhaupt zu besuchen, oder die in der Zeichnung sichtbar wurden, gibt zunächst einigen Teilnehmern den Mut, vor der Gruppe ihre spezielle Problematik aufzudecken. Dabei unterstützt Elisabeth Kübler-Ross oder einer ihrer Mitarbeiter insbesondere das Äußern von Gefühlen.

Kathartische Befreiung in der Gruppe

Die Auswirkungen dieses Gruppenprozesses sind ganz enorm. Dazu einige Beispiele von Teilnehmererlebnissen:

Da ist Paul. Er ist fünfzig Jahre alt, von Beruf Musiker und seit zehn Jahren bettlägerig. Auch den Kursus verfolgt er größtenteils im Liegestuhl, aus dem heraus er auch die lange Geschichte seiner Krankheit erzählt. Es ist eine Vita, die erzählt von häufigen Krankenhausaufenthalten, zahlreichen Operationen, in die Hoffnungen auf Besserung gesetzt wurden, die aber stets eine bittere Enttäuschung erfuhren. Paul gelingt es im Laufe der Woche, herauszukommen aus der Position bloßer Abrechnung mit seinen Ärzten, die er für alles verantwortlich gemacht hatte, und zu sehen, daß ein Teil seiner Immobilisation auch auf eigenes Nichtwollen, auf ein Sich-von-der-Welt-Ausschließen beruht. Trotz erheblicher physischer Schwachheit, gibt Paul mehrmals im Laufe der Woche unvergeßliche, konzertreife Klaviervorführungen, die sein Geschenk an die Gruppe sind. Es bereitet ihm sichtlich Freude, nach so langer Isolation anderen etwas geben zu können. Beim Abschlußfest überrascht er alle, als er, der seit zehn Jahren Bettlägerige, sogar einen kurzen Paartanz wagt.

Da ist Jan, 27 Jahre alt, ein junger Arzt am Beginn seiner klinischen Tätigkeit. Er teilt der Gruppe mit, wie belastend für ihn häufig das Arbeiten ist angesichts von Zeitmangel, hohen Patientenerwartungen, Abhängigkeit in Hierarchiestrukturen und der ständigen Unsicherheit über die Richtigkeit seiner Entscheidungen. Für ihn schafft die Mitteilung dieser Situation, das Ausdrücken von Selbstzweifeln und dem Gefühl ständiger Überbelastung grobe Erleichterung. Er entscheidet sich, künftig nicht nur anderen zu helfen, sondern ebenso sich selbst zu helfen beziehungsweise sich helfen zu lassen. Für die Gruppe wird dadurch das Klischee von ärztlicher Allmacht und Arroganz durchbrochen und ehrliches Bemühen um Menschlichkeit in der Begegnung mit Patienten erfahrbar.

Da ist Jane, die kaum 30 Jahre alt doch schon im Finalstadium ihrer Tumorerkrankung ist. Auch während der Kurstage hat sie immer wieder schwere Akutsymptome, die sich den Gruppenmitgliedern mitteilen und ein Überleben selbst bis zum Ende der Woche fraglich werden lassen. Jane berichtet mit leiser Stimme von ihrer Erkrankung, sie teilt mit, was in ihr vorgeht, und sie findet während des Workshops die Antwort auf die Frage nach Dingen, die in ihrem Leben noch unerledigt sind. Sie beschließt daraufhin, nach Hause zu fliegen und ein letztes Gespräch mit ihrer Mutter zu führen. Sie stirbt einen Tag nach ihrer Ankunft zu Hause. Für sie wurde damit möglich, ihr Leben abzurunden und zu beenden, was sie als Aufgabe in den letzten Stunden ihres Lebens empfand. Der Gruppe zeigte sie, wie wir bis zuletzt wachsen, handeln und nicht selten uns wirklich vollenden können.

Für den einzelnen, der sich äußert, ist oft am wichtigsten das Loswerden von Angst- und Schuldgefühlen, die oft über Jahre hinweg sein Leben bestimmten. Wer den Mut aufbringt, diese Gefühle vor sich und anderen anzuerkennen, ja auszuleben, erfährt eine kathartische Befreiung. Dabei erleben die anderen Gruppenmitglieder hautnah, was es heißt, Mensch zu sein, also zu ringen um Integrität und Ganzheit und sich wieder und wieder um Nähe zu denen zu bemühen, die wir am meisten lieben und die uns zugleich am tiefsten verwunden.

In der letzten Phase des Kurses ,Leben, Tod und Übergang” berichtet Elisabeth Kübler-Ross über die Erlebnisse von Menschen, die nach einem Atem- und Kreislaufstillstand erfolgreich reanimiert wurden. Ihre Berichte decken sich im wesentlichen mit denen von Moody und sprechen von einem großen Licht, das den an der Schwelle des Todes Stehenden erwartet und von dem eine überaus große Liebe und Wärme ausstrahlt. Besondere Betonung legt Dr. Kübler-Ross dabei auf zwei Aspekte, die sich in den Erzählungen immer wieder fanden. Zum einen, daß niemand alleine sterben kann, weil jeder im Moment des Übergangs stets die trifft, die er am meisten liebt und von denen ihn keine räumliche Begrenzung zu trennen vermag. Zum anderen, daß keine Verurteilung oder Strafgericht den Sterbenden erwartet, sondern daß er selbst alle Entscheidungen, die er im Laufe seines Lebens getroffen hat, im Angesicht des Lichtes an sich vorbeiziehen sieht und ihre Auswirkungen beobachtet. Zu diesem Punkt der Erlebnisse klinisch Toter gibt es eine lebhafte Auseinandersetzung, die noch nicht abgeschlossen ist. Aber auch für grobe Skeptiker ist es schwer zu erklären, wieso Menschen, die seit mehr als zwanzig Jahren blind sind, die Anordnung aller Geräte im Reanimationsraum sowie die Abfolge des Geschehens beim Aufwachen mit vielen Details beschreiben können. So ereignet sich im letzten Teil des Workshops die Hinwendung zur Hoffnung. Wichtigen Anteil daran haben auch gemeinsames Singen und ein großes Fest am Ende des Kurses – die sogenannte Tannenzapfenzeremonie. Dabei kann jeder einen Tannenzapfen in ein großes Lagerfeuer werfen und vor der Gruppe verkünden, was er mit dem Verbrennen des Tannenzapfens hinter sich lassen will. Im Anschluß daran halten Teilnehmer und Gäste ein gemeinsames Mahl, tanzen und singen in großer Runde miteinander.

“Crying room”

Zum Schluß des Artikels möchte ich noch auf zwei Dinge hinweisen, die Elisabeth Kübler-Ross durch ihre Arbeit initiiert hat. Das ist zum einen der ,crying room” (Schreizimmer). Dieser Raum ist ein Angebot für all jene, deren Angehörige plötzlich z. B. durch einen Unfall getötet wurden und die nun völlig überraschend von der Ambulanz eines Krankenhauses die Todesbotschaft bekommen. Zumindest in den Vereinigten Staaten wird die Übermittlung einer solchen Nachricht meist von der Verabreichung eines Tranquilizers begleitet. Untersuchungen haben jedoch gezeigt, daß die initiale Phase des Schocks, der Empörung und Verwirrung außerordentlich wichtig für die Dauer und Tiefe der Trauerarbeit ist. Tranquilizergaben in dieser Phase verlängern die Trauerzeit ganz erheblich, zum Teil um mehrere Jahre! Von daher die entschiedene Forderung von Dr. Ross, hier keine Medikamente zu geben, sondern im Gegenteil die Betroffenen behutsam in einen schallisolierten Raum zu bringen und sie dort im Ausdrücken ihrer Gefühle zu unterstützen. Crying rooms gibt es gegenwärtig in einigen amerikanischen Krankenhäusern. Sie werden betreut von ehrenamtlichen Mitarbeitern, die selbst solche oder ähnliche Situationen durchgemacht haben.

Selbsthilfe für Eltern krebskranker Kinder

Zum anderen möchte ich hinweisen auf die Gründung einer Selbsthilfeorganisation von Eltern, die alle eins verbindet, nämlich der Tod eines oder gar aller Kinder. Ausgehend von der weit überdurchschnittlichen Scheidungsquote dieser Elternpaare, versucht die Selbsthilfeorganisation ,Parents Together” umfassende Hilfe zu leisten. Durch den Dialog mit Eltern, die selbst ein Kind verloren haben, werden die vielen quälenden Selbstvorwürfe geäußert, die sonst unausgesprochen die Beziehung vergiften und schließlich zur Trennung führen können, weil der gegenseitige Anblick für die Eltern zu schmerzhaft wird. Eine ähnliche Selbsthilfeorganisation gibt es auch in Deutschland. Sie nennt sich ,Elterngruppe Krebskranker Kinder” und hat ihren Sitz in Hamburg (Telefon 040-6038487, F. Groß, Groten Hoff 13, 2000 Hamburg 67).

Informationen über Kurse und Anmeldung zu den Workshops:

Friends of Shanti Nilaya Deutschland, Dipl.-Psych. Dr. Hildegard Kalliner, Klotzenmoor 46, 2000 Hamburg

Literatur

1 Kübler-Ross, E.: Interviews mit Sterbenden. 12. Aufl. Kreuz Verlag, Stuttgart Berlin, 1980 (und Gütersloher Verlagshaus, Taschenbuchausgabe, 8. Aufl. 1980)

2 Kübler-Ross, E.: Leben bis wir Abschied nehmen. Kreuz Verlag, Stuttgart – Berlin, 1979

3 Gill, D.: Elisabeth Kübler-Ross – wie sie wurde wer sie ist. Kreuz Verlag, Stuttgart – Berlin, 1981

4 Moody, R. A.: Leben nach dem Tode. Rowohlt Verlag, Reinbek

Mit freundlicher Genehmigung entnommen aus:
Deutsches Ärzteblatt 1979 (1982), 7, 67; Deutscher Ärzte-Verlag, Köln ,

Dr. med. Bernd Mäulen