Trauma – Schnitt in die Biographie

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Wer mit traumatisierten Menschen arbeitet, gewinnt Respekt. Respekt vor den Kräften, die zum Überleben führten. Aber Begleiter, Helfer und Therapeuten erfahren auch, dass “Therapien” besser / effizienter werden können, dass aber nur selten menschengemachtes Leid in der Summe verringert werden kann. So wollen wir uns nicht an Traumatisierungen “gewöhnen”, sehr wohl aber müssen wir alles tun, um sie – weltweit – zu reduzieren, ihre Folgen zu beherrschen und vor allem die Ursachen zu bekämpfen.

Bei jeder Traumatisierung gibt es Primär-, Sekundär- und Tertiäropfer. Es gibt Opfer und es gibt Täter (und nicht selten wer den frühe Opfer zu späten Tätern! – denken wir aber auch an die fürchterliche Situation der Kindersoldaten, die ja Täter und Opfer zugleich sind!); es gibt Helfer, Retter und “Helden”. Es gibt die informierte (meist nur partiell informierte) Öffentlichkeit. Es gibt Institutionen und Berufsgruppen, die ihre Existenz mit Katastrophen und “Schicksalsschlägen” rechtfertigen. Aber immer bleibt letztlich das INDIVIDUUM Träger der Folgen von Traumatisierungen, von den Folgen der Begegnung mit dem erschütternden Ereignis. Und immer ist es die nächste Sozietät, die Hilfe und neue Orientierung gibt, das ist in den meisten Fällen die Familie. (Sie fällt als seelischer Schutzfaktor aus, wenn sie selber geschädigt ist bzw. wenn Teile von ihr selbst Schädiger sind!).

Nun hat es in der Menschheitsgeschichte immer und seit Anfang an Katastrophen, Verluste und übermäßiges Leiden gegeben. Und man kann sich zu recht fragen, ob die Menschen nicht eine angeborene Fähigkeit besitzen, um Träumen zu überwinden? Sonst hätten sie ja gar nicht überlebt! Aber wir müssen wohl unterscheiden, ob es sich um Naturkatastrophen oder um solche handelt, die von Menschen über Menschen kommen, Die jugoslawische Psychotherapeutin Proff.ssa A. Mikus KOS (1) wies kürzlich darauf hin, dass von den schwer traumatisierten Kindern in Sarajevo nur 10% Hilfe benötigten – und dass hierbei Pädagogen eine viel bedeutsamere Aufgabe zufiele als den professionellen Therapeuten verschiedenster beruflicher Herkunft!

Und wir Wissenschaftler und Trauma-Praktiker müssen uns fragen, was uns in der Psychotraumapologie so fasziniert? Ist es das Außergewöhnliche, was den Menschen immer angezogen hat? Ist es die insgeheim befürchtete eigene Ohnmacht, die uns tätig werden lässt? Ist es einfach nur Neugier für den Menschen in der Extrem-Situation? Ist es Forscherdrang mit einer Portion Selbstdarstellungsbedürfnis? Ist es Altruismus? Ist es von allem etwas?

WAS TREIBT DEN MENSCHEN?

Wir Menschen neigen dazu alles zu benennen; Wissenschaftler neigen dazu alles zu erklären und zu verstehen; Moralisten neigen dazu, alles zu bewerten; Poeten wollen Schicksale darstellen; Medienvertreter wollen (auch) durch möglichst dramatische Berichte die Quoten erhöhen und Schauspieler wollen erlebbar, nachvollziehbar machen… Wir versuchen, in die Vielfalt des möglichen Lebens und seiner Erscheinungen Ordnung bzw. ein minimales Verständnis zu bringen. Einfache psychobiologische Erklärungsmodelle sortieren Erscheinungsformen des Lebens nach Gefährlichkeit (Flucht), Neugier (u.a. “Schreckstarre”; “Gaffen” … ) bzw. nach der Wahrscheinlichkeit einer möglichen Beute (Angriff). Menschheitsgeschichtlich wohl erst relativ spät – und das mit durchaus egoistisch-utilitaristischen “Hintergedanken” – tritt der Altuismus auf. uneigennütziges Sicht-Selbst-Aufopfern unter einer philanthropischen Ideologie (und: um als “guter Mensch” dazustehen!). Aus der Selbsterhaltung als der Anhänglichkeit an das Leben kann – vor allem in männlich dominierten Gesellschaften – die Ehre als die Furchtlosigkeit vor dem Tod werden! (2) Und immer wird das “System der Ehre” mit dem “System der Klugheil” in Konflikt geraten.

Aber wer sagt, was richtig, was sinnvoll ist? Professionelle Etikettierer, die Diagnosen Il ankleben”? Die Gerichte? Das Volk bzw. die jeweilige Öffentlichkeit? Vor dem Unfassbaren bleiben wir alle “Versucher” in der Erklärung und Deutung; in der Wissenschaft letztlich genauso wie durch das sogenannte gesunde Volksempfinden!

DAS PSYCHOLOGISCHE

Was ist das Psychologische, wenn Menschen traumatischen Situationen ausgesetzt sind bzw. waren? Neben den schlimmen Folgen der Globalisierung von Vernichtung, Folter und Verbrechen bleibt es individuelles Erleben, Erleiden und Verarbeiten. Traumen sind im psychologischen Verständnis IDENTITÄTSKRISEN. Das Erleben, dass Identität nichts stabiles und nichte ewiges ist, stellt für die Opfer einen schwierigen Prozess dar; dabei stellen wir fest, dass gerade bei älteren Menschen diese bisherige Identität besonders stark zertrümmert werden kann. Das Opfer gerät in die Abhängigkeit der Helfer, es regrediert – und die humanitäre Hilfe verstärkt die Abhängigkeit; Allmacht steht gegen Hilflosigkeit.

VERLUST DES RAUMES

Die erlebte Krise wird als Scheitern erlebt, Schuld wird sowohl nach außen als auch nach innen transportiert. “Seelische Heimat” geht verloren, der Traumatisierte verfügt nicht mehr über den ORT seiner personalen Sicherheit. (Er wird in Kliniken, in Flüchtlingscamps, in Frauenhäuser… etc. untergebracht, er/sie muss neben dem Traum auch Traumatisierenden Folgen ertragen!). Es ist auffällig, dass Menschen immer wieder dorthin zurückkehren, wo das Schlimme geschah; Häuser werden oft genau dort wieder aufgebaut wo sie beim Erdbeben zusammenstürzten. Einsatzkräfte stellen Zeltreihen auf, organisieren alles und wundern sich, wenn Gerettete/Flüchtlinge sich nicht an diese fremde Ordnung halten. (Dann entsteht Unordnung bei den Helfern, nicht selten Ursache für wachsende Ungeduld und beginnende Aggression!).

VERLUST DER ZEIT

Neben dem räumlichen Identitätsverlust gibt es einen zeitlichen: des Ereignis wird als “ZEITBRUCH” erlebt, danach ist nichts mehr wie vorher! Alle zeitlichen Dimensionen der Verlässlichkeit sind zerstört; das Zeitempfinden verändert sich dramatisch. Auch Helfer verlieren nach ein paar Tagen das Gefühl für die Zeit. (Es macht für Flüchtlinge keinen Sinn, “pünktlich” zu essen… !). Das Opfer fühlt sich ausgeliefert, der “Held” schert sich nicht um Konventionen!

VERLUST DES SINNS

Es gibt eine dritte Dimension: Wenn alle Kontinuität verlorengeht, wenn keine “Regeln” mehr Sicherheit versprechen, geht die SINNTRÄGERSCIJAFT verloren. Nach einem traumatischen Ereignis verliert das Opfer das Gefühl für den Sinn des Lebens. Opfer (z.B. in Flüchtlingslagern) erleben sich oft in ihrer durchaus noch vorhandenen Kompetenz nicht beachtet. Die posttraumatische Situation wird als identitätsverletzend bzw. zerstörend erlebt. Der “Ereignisbruch” wird zum Knotenpunkt im Leben des Menschen – und seine weitere, seelische Befindlichkeit, sein Wohlbefinden und seine Leistungsfälligkeit in Zukunft wird davon abhängen, weil er/sie dieses Ereignis in seine Biographie einbauen will und wird.

OPFER

Wenn wir von OPFERN sprechen, müssen wir (als Wissenschaftler, Therapeuten und Katastropherohelfer) wissen, dass Opfer zuweilen auch – nach der Traumatisierung!- gern Opfer sind. Als Opfer erfährt man Zuwendung Aufmerksamkeit und oft auch Zuneigung! Opfer sind in unserer Mediengesellschaft interessant (als Interviewpartner, als Talk-Show-Gäste..). Es gibt opferlatente “Berufe”: Notärzte und Rettungspersonal, Polizisten, Soldaten, Piloten und Bankangestellte, Löwenbändiger und Berufskraftfahrer, Bergsteiger und Rennfahrer… Auch wenn diese Berufsgruppen oft hochprofessionell agieren, zeigen sich doch genauso oft erschreckende Handlungs-Defizite, wenn ihnen denn doch etwas “Schlimmes” widerfährt.

Das Opfer erleidet hinsichtlich seiner höheren Ich-Funktionen massive Defizite; im psychoanalytischen Sinn sind dies: “..die Binnenwahrnehmung mit der Subfunktion der Affektdifferenzierung, die Frustrationstoleranz, der Umgang mit Trieben und Affekten, die adaptive Regression im Dienste des Ich, die Antizipationsfähigkeit sowie die synthetische Ich-Funktion” (3). “Traumatisierend wirkt ein Ereignis dann, wenn es das Ich vorübergehend außer Kraft setzt. lm Zustand der Traumatisierung wird ein Mensch überflutet von Affektstürmen, die diffus-undiffernziert, konfus oder heftig widersprüchlich sind, so dass Gefühle der Todesangst, Ekel, Schmerz, Scham, Verzweiflung, Demütigung, Ohmnacht und Wut gleichzeitig oder in raschem Wechsel durchlitten werden.” (4) Das Opfer erduldet, versagt (subjektiv und/oder objektiv), leidet an den Folgen (bewu8t/expressiv bzw. still) und hat oft einen Gewinn aus der Opferrolle: man nimmt es in seinen Leid zur Kenntnis!

Da das Prinzip der Verantwortlichkeit nicht besonders gut entwickelt ist, suchen Opfer (und ihre Anwälte!) auch gern nach Schuldigen. Verursacher werden externalisiert! Das mögliche “schlechte Gewissen”, welches ja in Wirklichkeit oft ein gutes Gewissen ist, wird – fast sehnsuchtsvoll – in Un-Verantwortlichkeit verwandelt. Das Prinzip der Mit-Verantwortlichkeit geht zunehmend verloren die Völkergemeinschaft soll helfen, richten, reparieren, bezahlen … ). Dort, wo Leben immer mehr organisiert und vorgegeben wird, wird jedes Versagen als Katastrophe erlebt, vorschnell jedes Nicht-Erfüllen von idealen Vorstellungen als Trauma bezeichnet. Wo das Vertrauen in die Gesellschaft fehlt oder verloren gegangen ist, ist Kultur nicht möglich!

HELDEN

Wenden wir uns den sogenannten HELDEN zu. Der Held ist der, um den sich alles dreht. Der einzelne Mensch will “Helden”; Jungens wollen insgeheim Helden werden (und Männer wollen solche sein!), Mädchen wollen solche heiraten. Ein Clan benötigt Helden, auf die das Starke, Gute… projiziert werden kann. Ein Volk möchte Helden … vor allem aber sollen Helden unser aller Defizite kompensieren. Medien “machen” – auf dieser Basis – Helden; Literatur schafft Helden – und zu allen Zeiten (?) waren wohl auch Frauen in die “Heldinnen-Rolle” gedrängt. (Obgleich d a s Opfer sächlich, d e r Held dagegen männlich ist!).

Der Mensch möchte – neben der Vernichtung, der Kreuzigung – aufblicken, anhimmeln, anbeten… Götter und Helden wurden “erfunden”, um Leben zu erleichtern, verstehbarer, “lenkbarer” zu machen. (Haben die Götter die Menschen oder haben die Menschen die Götter geschaffen?)

Helden in der Mythologie in den Religionsgeschichten, bei Kriegsnachbetrachtungen (und nach Einsätzen) erfüllen Funktionen: Ordnungsstifter als Vorbilder, Objekte der Ehrung (zuweilen der Ver-Ehrung) des eigenen Denkens und Fühlens (seltener des Tuns) haben sie in modernen Zeiten auch Unterhaltungs- und Ablenkungscharakter (Rennfahrer Schumacher, Bill Gates, Michael Jackson … ). In der Wissenschaft und Literatur werden Nobelpreisträger gekürt; im Filmbusiness werden Oskars ausgelobt; in der Kirche wird selig- und heiliggesprochen; Verdienstmedaillen und (Bundesverdienst-) Orden befriedigen des Menschen uraltes psychobiologisches Bedürfnis nach Hierarchien.

Die durch die Tat und die sich zuweilen anschlie8ende, öffentliche (!) Ehrung demonstrierte Wertschätzung verdeutlicht immer auch Machtstrukturen: Wer. wird – von wem? – zum “Helden” emporstilisiert? “Die durch das Loch einsteigenden Helden, die in den meisten Fällen in den jeweiligen Gebäuden gar nicht wohnten, aber zufällig dort menschliche Laute gehört hatten…” schreibt Orhan Pamuk (türk. Schriftsteller in FAZ 25.08.99).

Der Helfer und Retter bei Katastrophen – sei er Profi oder Laie – der Soldat, der engagierte Bürger, der Künstler oder Wissenschaftler… was bewegt ihn viel mehr zu tun als er müsste?

Die “Lichtgestalten” in monströsen Opern und tiefsinnigen Theaterstücken hatten (und haben?) doch wohl alle auch einen “Erziehungsauftrag”? Kann es da verwundern, wenn Comic-Serien”Helden”, aber auch Schwarzenegger als Terminator und Bronson als der Mann, der Selbstjustiz übt, wenn er rot sieht usw. zu Vorbildern werden? Ist es nicht nachvollziehbar, wenn Medien vor allem von “erfolgreichen Übeltätern” berichten, Nachahmer dort auftauchen, wo sie mit dem “anständigen” Leben keine Erfolge mehr verbuchen können? (Wirtschaftskriminelle, Bandenkriminalität, selbst Geiselnahmen und Erpressungen … ). Also haben wir auch neben den (historischen) Lichtgestalten die “schwarzen Helden” des Verruchten, des Abstrusen/Diabolischen und des Verbrechens… und im Graufeld verehrt “das Volk” seine Heiden als Robin Hood, Störtebecker oder auch den Hauptmann von Köpenick: Abschreckung geht hier über in “klammheimliche Freude”! Der Held hält aus; ist oder wird aktiv, leistet mehr als andere, ohne dass ihm selber seine Motive oft bewusst sind. Er stemmt sich gegen das vermeintliche Schicksal und wendet den Verlauf, hält ihn zumindest mit Gewinn auf “Helden” in Kriegen, bei Expeditionsunglücken, bei Rettungsmaßnahmen berichten immer wieder von Flow-Erlebnissen (6), von einein Gefühl der (momentanen) Unverwundbarkeit – und von außen werden sie beschrieben als Menschen mit Charisma. Andere Personen setzen den “Helden” durch hoch-komplizierte Mechanismen in seine Rolle ein: Gerade in Krisenzeiten will “das Volk” die Vaterfigur. Ihr werden dann auch – unbewusst – Rechte und Vorrechte eingeräumt und Kräfte zugesprochen. In der kognitiv orientierten Verhaltenswissenschaft kennen wir hierfür den Begriff der “selbsterfüllenden Prophezeiung”. Helden werden und wurden auf Sockel gestellt, auf überlebensgroße Bilder gebannt – und auf Bronzepferde gesetzt; heute sind wir – weil wir aus der Geschichte schmerzlich lernen mussten – vorsichtiger mit der Ernennung von Helden. Aber wir haben unsere Idole, die durch die Talk-Shows gereicht werden. Selten sind sie in der Lage selbstkritisch zu reflektieren, was ihnen wirklich geschah. Sie werden in erster Linie zu Geschichten Erzählern: so ist menschliches Leben, so kann es sein! In einer Zeit, in der jede Handlung tarifvertraglich geregelt scheint, wird es zur Besonderheit, wenn ein Mensch in einer kritischen Situation mehr tut als er tun müsste oder anderes tut als man normalerweise erwarten darf.

DER “SCHNITT in die BIOGRAPHIE”

Menschen haben – eher unbewusst – die Vorstellung von der Gradlinigkeit ihrer Lebenskurve; das hohe Ausmaß des Ungesichertseins Und das letztlich vorhandene Wissen um die immer möglichen Erschütterungen soll durch die unterschiedlichsten Rituale beschworen werden. Das gravierendste Ritual dürfte der Glaube an die Kontinuität der Lebensläufe sein; an das, was man üblicherweise wohl mit “normal” bezeichnet. “Normalität” ist aber nicht die Normalität! Ein normales Leben ist die Vorstellung von einem Leben, das keine negativen Erschütterungen kennt/ kennen will!

Und dann passiert es doch! Meist unvorhergesehen (Trauma Typ 1 – klarer Anfang und klares Ende) oft aber eben auch vorhersehbar (Trauma Typ Il – dauernd, unerträglich… Es gibt Opfer.

Das Selbstverständnis des Menschen und sein Weltverständnis werden erschüttert, seine Ehre geht verloren. Nach der Lebensgrenzerfahrung ist für die Person alles anders als vorher. Der Verlust der Kontrolle über das eigene Leben, der eigenen Lebensgestaltung wird als “Schicksalsschlag” erlebt. 0 p f e r suchen Erklärungen, formulieren Schuldzuweisungen; sie weisen sowohl Mit-Schuld weit von sich wie sie zuweilen auch alle Schuld auf sich nehmen – oft im Sinne der “gerechten Bestrafung”; Suizid-Gedanken sind dann nicht selten. Kriegs-, Naturkatastrophen- und Folteropfer erleben sich als “Ge-Opferte”; in Schicksalsgemeinschaften versuchen sie ein physisches bzw. psychisches Über-Leben zu erreichen. In vielen Fällen können solche Opfer den Umgang mit diesen Lebensgrenzerfahrungen nur durch die uneigennützige Hilfe von außen schaffen. Nur zu oft scheint die Lebensverweigerung, der Suizid, der einzige Ausweg…

Eine Neu-Orientierung von Leben wird notwendig. Nachsorgen im psychosozialen Feld entdecken hier ein neues Betätigungsfeld – boshafte Zungen sprechen bereits von Betreuungs-Terrorismus!

“H e l d e n ” geraten in den Mittelpunkt des (Medien-)Interesses, werden ob ihres besonderen Handelns mit einem Status versehen, der sie verändert: Selbst-Erleben und die öffentlichen Zuschreibungen (Attribution) von Eigenschaften klaffen oft auseinander, Abwehr wie auch unkritische Identifikation mit den attribuierten Erwartungen sind möglich. Aus dem Schatten des Gewöhnlichen ins voll Scheinwerferlicht des Interesses gerückt, verändert der “Held” seine Sicht von sich selbst; auch die Sicht von der Welt: er “hat” plötzlich neue Freunde, wird in eine Führungsrolle gedrängt und von der Werbung zweifelhaft missbraucht (ein Ski-Ass wird Experte für Fahrzeug-Standheizungen, ein ehemaliger Spitzenfußballer Fachmann für Mobilfunksysteme..).

Aber Opfer wie Helden leben nicht nur in der Öffentlichkeit. Sie haben – meistens – Familien, leben in Nachbarschaften und haben Arbeitskollegen. In vielfältiger Weise wird die er- und überlebte Grenzerfahrung ventiliert; Stolz, Bewunderung, Mitleid, Bedauern, Mitgefühl, Unverständnis aber auch Neid und Mißgunst takten von nun an die Beziehungen.

Ein merkwürdiges Doppelspiel beginnt: die Eigensicht und die Fremdsicht (Auto- und Heterostereotyp) stabilisieren sich gegenseitig: man wird, was man von sich selbst bzw. was wichtige andere von einem denken. So wird die Grenzerfahrung zum Focus des zukünftigen Lebens- “ewige Ohnmacht” wird für das “arme Opfer” genauso festgeschrieben wie die “zugeschriebene Allmacht” für den Helden.

“GESUNDE”

Gut untersucht sind pathogene Faktoren; was aber sind salutogene Faktoren? Maercker(7) diskutiert kritisch, sowohl unter methodologischen als auch unter systemischen bzw. theoretischen Betrachtungsweisen diverse Untersuchungen der letzten Jahrzehnte. Das ältere Konzept von Antonovsky. (et al.) des Kohärenzkonzepts sah ja die gute Widerstandsfähigkeit eines Individuums darin, dass die Stressoren verstehbar waren, als bewältigbar und sinnstiftend erlebt wurden. Andere Autoren (Hendin u. Haas; alle bei 7, S. 119 f.) sprechen (bei Kampfeinheiten) von emotionaler Stabilität; danach zeigen resiliente Personen während des Einsatzes ruhiges Verhalten, trotz der objektiv vorhandenen Gefahr. Sie verstanden und akzeptierten auch chaotische Situationen, hatten die Situation und sich selbst unter Kontrolle. Seelisch zeigten sie auch keine Schuldgefühle, da sie ihr Tun und Erleben als “ihren Auftrag” verstanden. Solomon et al. Fanden zwei diskriminierende Faktoren für gesundgebliebene Soldaten: nämlich geringes Stresserleben während des Einsatzes und intensiv wahrgenommene Unterstützung seitens ihrer Vorgesetzten. Insgesamt zeigten Gesundgebliebene weniger Neigung zum Grübeln und damit auch weniger Tendenzen zur Selbstberuhigung. Auffallend ist, wie bei verschiedenen Autoren übereinstimmend die soziale Unterstützung gewürdigt wird. Bei Verkehrsunfallopfern finden Rogner und Kollegen heraus, dass der Genesungsverlauf positiv beeinflusst werden kann, “wenn der Unfall als unvermeidbares und abgeschlossenes Ereignis betrachtet wurde, an dem man sich selbst nicht die Schuld gab.” (in Maercker, S. 120).

Es deutet also viel darauf hin, dass die Einstellung zum Leben und die Einstellung zum Ereignis im Vorfeld des eigentlichen Geschehens für die Verarbeitungsneigung eine große Rolle spielt. Neben genetischen Faktoren, die wohl eine Rolle spielen, sind Auswahl und Schulung für Einsatzkräfte sicherlich von großer Bedeutung. Maercker referiert auch die für die Ausbildung einer posttraumatischen Belastungsstörung begünstigenden Faktoren; er sieht zwei pre-event-Faktoren: eine Vulnerabilitätserhöhung ist wahrscheinlich, wenn bereits im Jugendalter belastenden Situationen durchlebt und nicht angemessen versorgt wurden und bei älteren Personen über 50 Jahre. Hinzu kommen vor allem schlechte Erfahrungen mit menschenverursachten (man-made) Traumata. Hier dürfte der Vertrauensverlust die entscheidende Rolle spielen.

Wir wissen immer noch nicht genau, was Menschen auch nach schwierigsten Belastungen gesund erhält; wir wissen nur, dass traumatische Ereignisse von Gesunden bzw. von wiedergesundeten Traumaopfern anders verarbeitet werden. (Für Beratung und Therapie erwächst daraus m. E. die Verpflichtung, sich sehr genau nach traumatischen Kindheitserfahrungen zu erkundigen!). Es sind wohl nicht “die Schlechtesten”, die leiden: die Sensiblen mit Skrupeln sind empfindsamer als die “Hau-Ruck-Typen”, die sich bis zu einer menschenverachtenden “Genickschussmentalität” entwickeln können.

Der “Schnitt in, die Biographie” wird zum Wendepunkt des Lebens: man ist stigmatisiert und verharrt – bis ins Alter – oder man entwickelt sich nach dem Ereignis als Person weiter. Wir können Problemen – auch Lebensängsten – nur sehr kurzfristig davonlaufen. Sie werden uns immer wieder verfolgen. Wir müssen und können lernen, Schwierigkeiten als etwas anzunehmen, was zum Leben gehört. So wie wir beim Bergsteigen neben dem Training die richtige Ausrüstung mitnehmen sollten (und selbst dann ist die Gipfelbesteigung nicht garantiert!), sollten wir uns auch im täglichen Leben gegen “Unwetter” vorbeugend schützen. Damit können wir keinen Gewitterguss verhindern aber wir können dafür Sorge tragen, dass wir unterwegs keinen gröberen Schaden erleiden.

Und: Wäre das Leben – in der Rückschau – nicht letztlich banal und trivial, wenn wir nicht auch durch Zeiten des Leidens gegangen wären? Leid, Kummer, Sorgen und Pein sind eben auch Größen in unserem Leben, die Tiefen u n d Höhen des menschlichen Daseins aufzuzeigen vermögen. Das Ereignis ist in der Biographie einzubauen (zumindest darf man dafür dankbar sein, dass man überlebt hat!). Es gehört von nun an zur Lebensgeschichte, bestimmt sie aber nicht. Befreien wir uns selbst, befähigen wir auch andere, sich aus ihrer “ewigen Rolle” von Opfer oder Helden zu befreien!

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Literatur und Anmerkungen

(1) während eines Vortrages in Bozen/Italien zur Thematik: Psychologische Entwicklungslehre und Krisensituation am 25.06.99
(2) nach Seemann et al.: Das Prinzip Bosheit. Heyne Verlag, S. 122
(3) nach Rauchfleisch in Sachsse, U.(l 997): Selbstverletzendes Verhalten. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S. 45
(4) ebenda S. 46
(5) in: FAZ vom 25.08.99
(6) Csikszentmihalyi, M. (1987): Das Flow-Erlebnis, Klett-Cotta
(7) Maercker, A. (1998): Posttraumatische Belastungsstörungen. Psychologie der Extrembelastungsfolgen bei Opfern politischer Gewalt, Pabst