Zur Problematik der Lebensqualität und Suchtgefährdung von Ärzten

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Zur Problematik der Lebensqualität und Suchtgefährdung von Ärztinnen und Ärzten
Prof. Dr. med. Ch. Reimer & Dipl.-Psych. H. B. Jurkat

Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Justus-Liebig-Universität Gießen,

Friedrichstr. 33, 35392 Gießen

Veröffentlicht in: Suchttherapie an der Schwelle zur Jahrtausendwende
Neuland Verlag, Geesthacht 2000
http://www.neuland.com

Vorgetragen auf dem 1. Symposium der Professor Dr. Matthias Gottschaldt Stiftung http://www.gottschaldt-stiftung.de

Einleitung: Im folgenden handelt es sich um einen vorläufigen Bericht zu Ergebnissen von empirischen Untersuchungen zur Problematik der Lebensqualität und Suchtgefährdung von Ärztinnen und Ärzten. Es sei darauf hingewiesen, daß die Datenauswertung hierzu noch nicht endgültig abgeschlossen ist. Eine entsprechende Publikation (Reimer, Jurkat, Mäulen & Stetter)1 für eine wissenschaftliche Zeitschrift befindet sich in Vorbereitung.

Wenn über Probleme der Lebensqualität und Suchtgefährdung von Ärztinnen und Ärzten berichtet wird, dann geschieht dieses, weil es verschiedene Hinweise darauf gibt, daß die Lebensqualität von Ärztinnen und Ärzten u. a. aufgrund der spezifischen Stressoren des ärztlichen Berufes beeinträchtigt ist. Ein Beleg dafür können die Ergebnisse von Untersuchungen sein, die sich mit der Situation von Medizinern und insbesondere ihrer psychischen Gefährdung befaßt haben. Wir fassen diese Ergebnisse hier verdichtet zusammen.

Die Lebenserwartung von Ärztinnen und Ärzten entspricht etwa der des Bevölkerungsdurchschnitts, liegt aber etwas niedriger als diejenige von sozioökonomisch vergleichbaren Gruppen (Volkmann, 1994, Herschbach, 1991). Es sei angemerkt, daß es überraschend schwierig ist, an klare Angaben zu gelangen, oder daß diese sogar widersprüchlich sind (Reiss, 1999). Im Hinblick auf die psychische Gefährdung ist die Ärzteschaft möglicherweise stärker betroffen als der Bevölkerungsdurchschnitt. Aufgrund des Wissens der Ärzte um Gesundheit und Prävention könnte man ja auch erwarten, daß sie dieses Wissen viel konsequenter als Nichtmediziner auf sich selbst anwenden, mit der Folge einer eventuell höheren Lebenserwartung und einer besseren psychischen Gesundheit.

Wie sieht nun die Realität aus? Mediziner sind offenbar besonders anfällig für die im folgenden aufgeführten Störungen:

  • Depression
  • Suizid
  • Partnerschaftsprobleme
  • Sucht.

Diese Störungen stehen in einem scheinbar sehr gravierenden Widerspruch zum Idealbild des Arztes, der seelisch stabil, immer hilfsbereit und jeder Anforderung standhaltend sein soll und oft auch sein will. In der einschlägigen Literatur wird immer wieder auf die Neigung von Ärzten zu Depressionen hingewiesen. Es fehlen allerdings häufig Kontrollgruppen (Brooke, 1997), so daß dieser Befund wissenschaftlich nicht gesichert ist.

Faßt man die vorliegenden Befunde zur Suizidhäufigkeit bei Ärzten zusammen (Lindeman, Läärä, Hakko & Lönnqvist, 1996), so ergibt sich eine insgesamt etwa 2,5fach höhere Suizidrate als bei Angehörigen vergleichbarer Berufsgruppen. Dieser Befund kann als gesichert gelten. Für Ärztinnen werden z. T. noch höhere Raten angegeben, so z. B. in einer schwedischen Untersuchung von Arnetz et al. (1987) eine 5,7fach erhöhte Rate. Black hat 1992 berichtet, daß 6,5 % aller Ärztinnen irgendwann einmal Suizid begehen. Ross (1973) nennt als Gründe für die höhere Suizidrate bei Ärzten Überanstrengung durch den Beruf und die psychiatrische Morbidität, insbesondere Depressionen sowie Alkohol- und/oder Tablettenmißbrauch. Nach Ross begehen Ärzte nicht nur häufiger, sondern auch früher als andere Suizide. Unter den Medizinstudenten sei Suizid die zweithäufigste Todesursache.

Interessant ist eine Aufschlüsselung der Arztsuizide nach verschiedenen Fachrichtungen. Weitgehende Übereinstimmung besteht darin, daß Psychiater von allen Berufsgruppen das höchste Suizidrisiko haben (Rich & Pitts, 1980). In den letzten Jahren wurde erstmals auch auf ein hohes Risiko der Allgemeinchirurgen hingewiesen. Die zweithöchste Suizidrate haben die Anästhesisten vor den Internisten, Neurologen und Allgemeinmedizinern, bei deren Verteilung auf die Ränge keine Einheitlichkeit besteht.

Wir möchten diese Befunde jetzt nicht weiter interpretieren, sondern auf eine weitere Tatsache, nämlich die Suchtgefährdung der Ärzte eingehen. Diese hohe Suchtgefährdung kann ebenfalls als gesicherter Befund gelten (Hughes et al., 1992; McGovern, Angres, Uziel-Miller & Leon, 1998; Paris & Canavan, 1999). Insbesondere wird immer wieder auf die Gefährdung durch Alkoholismus hingewiesen (Brooke, 1997). Es gibt eine Reihe von Untersuchungen, die deutlich machen, daß der Anteil an Alkoholikern unter den Ärzten höher als in der Normalbevölkerung ist. Walker (1981) geht davon aus, daß bis zu 10 % der Ärzte in den USA Probleme mit Alkohol oder Medikamenten bzw. Drogen haben oder im Verlauf ihrer Karriere an Depressionen erkranken und Suizid begehen; zur Zeit praktizieren dort über 700 000 Ärztinnen und Ärzte. Aufgrund der besonderen Stellung des Arztes vollziehen sich Erkrankung, chronische Phase und Rehabilitation meist abgeschirmt gegenüber der Außenwelt. Wie bei anderen Berufsgruppen mit hoher Verantwortung und gehobener Position führt dies zu prolongierten Krankheitsverläufen. Am Ende steht erschreckend häufig ein Suizid.

Eine Reihe von Studien belegen, daß auch die Partnerschaften bzw. Ehen von Ärzten besonders belastet zu sein scheinen: Obwohl die Scheidungsrate unter Ärzten nicht oder nur geringfügig höher liegt als in der Allgemeinbevölkerung, werden Arztehen als besonders konfliktträchtig geschildert. Nach Gabbard und Menninger (1988) ist der Arzt, auch wenn es die objektiven Bedingungen zulassen würden, nach den anstrengenden Jahren der Facharztausbildung und des Aufbaus der eigenen Praxis oft nicht mehr fähig, seinen Arbeitseinsatz herabzuschrauben und sich mehr um seine Familie zu kümmern. Seine Versprechungen, sich wieder mehr Zeit für Frau und Familie zu nehmen, erfüllen sich nicht. Arztehefrauen realisieren in solchen Fällen, daß ihre Hoffnung auf ein größeres privates Engagement ihrer Ehemänner nach der Konsolidierung der Praxis eine Illusion war. Diese Einsicht kann zu einer Verschlechterung der ehelichen Beziehung sowie zu emotionalen Problemen und Alkohol- oder Medikamentenabhängigkeit der Ehefrauen führen.

Kritisch muß angemerkt werden, daß in den Untersuchungen zur Konfliktanfälligkeit und Belastungen von Arztehen allerdings durchgängig Kontrollgruppen fehlen, so daß es bisher keine wissenschaftlich gesicherte Belege dafür gibt, daß Arztehen wirklich unglücklicher sind als Ehen in vergleichbaren Berufsgruppen.

Wir möchten es bei diesen wenigen einführenden und sicherlich sehr verdichtenden Bemerkungen zu Problemen der Lebensqualität von Ärztinnen und Ärzten bewenden lassen und erste Ergebnisse aus einem eigenen Forschungsprojekt vorstellen.

In den letzten Jahren haben wir uns mit der Problematik der Lebensqualität von Ärztinnen und Ärzten auseinandergesetzt. Wir verfügen mittlerweile über eine Stichprobe von 720 Ärztinnen und Ärzten, die wir zu verschiedenen Aspekten ihrer Lebensqualität befragt haben. Ein Teil der Stichprobe besteht aus 303 amerikanischen Ärztinnen und Ärzten, die wir in diesem Jahr erhoben haben. Die Datenauswertung des sehr umfangreichen Materials ist noch nicht abgeschlossen. Wir stellen die wichtigsten Ergebnisse einer Teilstichprobe von 142 substanzabhängigen Ärztinnen und Ärzten vor, die wir mit Hilfe der Oberberg-Kliniken rekrutieren konnten.

Wir haben untersucht, inwieweit die Lebensqualität der substanzabhängigen Ärztinnen und Ärzte beeinträchtigt ist. Als Meßinstrument diente ein eigens entwickelter umfangreicher Fragebogen zur Lebensqualität von Ärztinnen und Ärzten mit den Schwerpunkten: Arbeitszufriedenheit/-unzufriedenheit, Berufswahl, Lebenszufriedenheit/-unzufriedenheit und Gesundheit. Der Fragebogen besteht sowohl aus geschlossenen als auch aus offenen Fragen, wobei zum Ausfüllen ca. 45 bis 60 Minuten benötigt werden. Das gesamte qualitative Datenmaterial wurde von unabhängigen Ratern kodiert mit einer Interkoderreliabilität von durchweg über 90 %.

Die Stichprobe bestand zu 73 % aus Ärzten und zu 27 % aus Ärztinnen (Tabelle 1). Das Durchschnittsalter der Männer lag mit 46,8 Jahren nur geringfügig über dem der Frauen mit 45,2 Jahren. 36,7 % waren im Krankenhaus tätig, und 60,4 % waren niedergelassen. Die durchschnittliche Arbeitszeit pro Woche betrug 52 Stunden, bei den Ärzten allerdings deutlich höher als bei den Ärztinnen. Erwartungsgemäß waren die größeren Fachgebiete auch relativ stärker vertreten: 20 Internisten, 17 Allgemeinmediziner und 16 Chirurgen. Anästhesisten waren mit 8,5 % in der Stichprobe deutlich stärker vertreten als es ihrem Anteil unter den Medizinern entspricht. Ansonsten stellten die Zahnärzte mit 24 die größte Teilstichprobe dar.

Abbildung 1 und Abbildung 2 sind englisch beschriftet, da wir erste Teilergebnisse im vergangenen Jahr vor der American Medical Association und der Canadian Medical Association in Vancouver vorgestellt haben.



Abbildung 1: Work satisfaction of German physicians

Abbildung 1 zeigt die wichtigsten endgültigen Ergebnisse zur Work Satisfaction, also Arbeitszufriedenheit. Wir haben unsere Teilstichprobe der impaired physicians verglichen mit der Kontrollgruppe der 275 nicht substanzabhängigen Mediziner. Während die deutsche Approbationsordnung für Ärzte Berufsunfähigkeit als Vorliegen körperlicher oder geistiger Gebrechen und/oder Sucht beschreibt, hierbei allerdings keinen Raum für graduelle Abstufungen läßt, unterscheidet man in der englischen Literatur den impaired (wörtlich: beeinträchtigt) von dem handicapped (wörtlich: behindert) Arzt. Am ehesten läßt sich der Begriff des impaired physician durch die Umschreibung des in seiner professionellen Leistung geminderten Arztes wiedergeben.

Von den Substanzabhängigen waren 45,3 % mit ihrer jetzigen Arbeitssituation im großen und ganzen zufrieden im Vergleich zu 52,6 % der Kontrollgruppe. Kaum oder gar nicht zufrieden waren 12,9 % bzw. 10,1 % von den Substanzabhängigen. Die entsprechenden Werte lagen bei der Kontrollgruppe lediglich bei 4,8 % bzw. 2,9 %.

Die Zufriedenheit mit dem Einkommen war bei den Substanzabhängigen geringfügig niedriger, und geschlechtsspezifische Unterschiede waren nicht signifikant.


Abbildung 2: Life satisfaction of German physicians

Abbildung 2 zeigt die wichtigsten Ergebnisse zur Lebenszufriedenheit unserer deutschen Ärzte, wiederum im Vergleich der beiden Gruppen. 40,6 % der substanzabhängigen Mediziner sind mit ihrem Leben nur wenig zufrieden. Bei der Kontrollgruppe liegt der entsprechende Wert nur bei 9,2 %. Umgekehrt sind hier 39,2 % mit ihrem Leben sehr zufrieden, während es bei den Substanzabhängigen nur 9,4 % sind.

Bezüglich der Lebenszufriedenheit gibt es jeweils in beiden Stichproben nur minimale geschlechtsspezifische Unterschiede zugunsten der Ärztinnen. Bei den Substanzabhängigen sind sie nicht signifikant. Besonders interessant dabei ist, daß es sich bei der Lebenszufriedenheit um ein Konzept handelt, daß dem der Lebensqualität relativ nahe kommt. Zu den größeren Unterschieden zählt ferner, daß eine Unzufriedenheit mit der Partnerschaft verhältnismäßig oft erkennbar ist. Häufig besteht sogar keine Partnerschaft bei den Substanzabhängigen. Der Median bezüglich der Zeit, in der man sich mit dem Partner unterhält, liegt bei ihnen auch hochsignifikant niedriger. Depressivitätswerte, die u. a. von der Beantwortung der Frage: “Möchten Sie manchmal einschlafen und nicht wieder aufwachen?” abgeleitet werden können, liegen ebenfalls hochsignifikant höher.


Abbildung 3: Auswirkung des Lebensstils auf die Gesundheit
in Abhängigkeit von Substanzabhängigkeit

Kategorisiert man die Antworten zu der offenen Frage: “Wenn Sie Ihren Lebensstil einmal kritisch überdenken: Denken Sie, daß er Ihre Gesundheit eher fördert oder eher beeinträchtigt?” in die drei Kategorien beeinträchtigt, teils/teils und fördernd, ergibt sich, daß 87,5 % der substanzabhängigen Mediziner sich in ihrer Gesundheit durch ihren Lebensstil beeinträchtigt fühlen. Von der Kontrollgruppe sagen das nur 60,6 %, allerdings immer noch ein u. E. bedenklich hoher Wert.


Abbildung 4: Auswirkung des Lebensstils auf die Gesundheit
in Abhängigkeit von Substanzabhängigkeit und Geschlecht

Abbildung 4 zeigt die Auswirkung des Lebensstils auf die Gesundheit in Abhängigkeit von Substanzabhängigkeit und Geschlecht. Hier zeigt sich, daß sich bei den Substanzabhängigen beide Geschlechter, wenn auch mehr Frauen als Männer, in ihrer Gesundheit beeinträchtigt fühlen. Die Werte in der Kontrollgruppe sind auch noch hoch genug, aber im Unterschied zu den Substanzabhängigen noch deutlich niedriger. Hier fühlten sich die Männer stärker beeinträchtigt als die Frauen. Unter den substanzabhängigen Ärztinnen fühlten sich fast alle (97,1 %) in ihrer Gesundheit beeinträchtigt, und nur eine einzige fühlte sich durch ihren Lebensstil gefördert (2,9 %). Bei ihren männlichen Kollegen fühlten sich 9,8 % in ihrer Gesundheit gefördert und 83,7 % fühlten sich beeinträchtigt.

Mehr als 80 % der Substanzabhängigen gaben Schlafstörungen an, insbesondere Durchschlafstörungen, gefolgt von Einschlafstörungen. So antwortete ein 53jähriger Arzt zu der Einschätzung seiner Schlafgewohnheiten (Zitat): “Schwere Ein- und Durchschlafstörungen seit über 25 Jahren, habe mich damit abgefunden.” Wir konnten eine deutlich verstärkte Einnahme von Medikamenten und Schlafmitteln im Vergleich zu den Nicht-Süchtigen feststellen. Etwa zwei Drittel der Süchtigen sind zusätzlich Raucher. Dies ist mehr als doppelt so hoch als der Durchschnittswert bei den Nicht-Süchtigen.

Nahezu 80 % der substanzabhängigen Mediziner gab bezüglich der Frage an, wie sie mit Anspannungen, die aus der Arbeit resultieren, im allgemeinen umgehen würden, daß sie solche Spannungen eher mit sich selbst austragen. Die nicht Substanzabhängigen antworteten hingegen häufiger, daß sie diese durch Pflege kollegialer Kontakte und Gespräche wie auch durch sportliche Aktivitäten bewältigen. Erwartungsgemäß gaben auch viele der Substanzabhängigen an, Anspannungen durch Ersatzmittel zu bewältigen, wie sich an Zitaten wie z. B. “Mißbrauch von Alkohol und Nikotin im Übermaß…” und “Eindeutig Verhalten bzw. Neigung, legale oder illegale Drogen zu benutzen, um Entspannung zu finden” verdeutlichen läßt.


Abbildung 5: Würden Sie den Beruf wieder wählen,
wenn Sie erneut vor die Entscheidung gestellt würden?

Den Arztberuf wieder wählen würde nur die Hälfte der Süchtigen (Abbildung 5), dagegen fast zwei Drittel der Nicht-Süchtigen. Fast die Hälfte würde auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt eindeutig lieber oder zumindest eventuell in einem anderen Beruf arbeiten, wobei die Bandbreite solcher Wunschäußerungen sehr groß ist. Die Unterschiede zwischen Männern und Frauen waren in beiden Stichproben eher gerinfügig.


Abbildung 6: Würden Sie Ihren Kindern raten, den Arztberuf zu ergreifen?

Nur 11,5 % der substanzabhängigen Ärzte im Gegensatz zu 18,1 % der Nicht-Substanzabhängigen würde ihren Kindern noch raten, den Arztberuf zu ergreifen (Abbildung 6). Die Unterschiede zwischen den Gruppen in den beiden anderen Kategorien (nein bzw. nur bedingt) sind erkennbar, aber nicht deutlich ausgeprägt.

Wir fassen die wichtigsten Ergebnisse unserer Untersuchung kurz zusammen: Insgesamt ist die Lebensqualität bei den Substanzabhängigen im Vergleich zu Kontrollgruppe deutlich geringer. Die Bereiche Lebenszufriedenheit/-unzufriedenheit und Gesundheit differenzieren im Durchschnitt noch stärker als die Bereiche Arbeitszufriedenheit/-unzufriedenheit und Berufswahl. So ergibt sich zwar eine etwas geringere Arbeitszufriedenheit bei den Substanzabhängigen im Vergleich zu den Nicht-Süchtigen. Die Werte zur allgemeinen Lebenszufriedenheit liegen jedoch bei den Substanzabhängigen hochsignifikant niedriger; insbesondere das Privatleben scheint beeinträchtigt zu sein.

Während bei der Kontrollgruppe die Lebensqualität der Ärztinnen eher etwas höher als die der Männer war, konnte dies bei den Substanzabhängigen nicht bestätigt werden.

Welche Konsequenzen könnten aus diesen Ergebnissen hinsichtlich präventiver Aspekte und auch im Hinblick auf mögliche Hilfen für gefährdete Ärztinnen und Ärzte abgeleitet werden?

Im Sinne von Primärprophylaxe scheint es uns sinnvoll, bereits Medizinstudenten systematisch über die Stressoren des Arztberufes zu informieren und über Bewältigungsmöglichkeiten und Vorbeugung zu diskutieren. In Gießen haben wir dieses bereits in die Lehre des Pflichtpraktikums Psychosomatische Medizin und Psychotherapie integriert.

Im Sinne von Sekundärprophylaxe müßten Seminare bzw. Weiterbildungsveranstaltungen für bereits berufstätige Ärzte angeboten werden, die über diese Thematik im Sinne von Aufklärung und Prävention informieren.

Welche Hilfsmöglichkeiten gibt es, wenn Ärztinnen und Ärzte für Probleme, die aus der Arbeit mit ihren Patienten resultieren, Hilfe benötigen? Hierzulande gibt es wenig systematische Hilfen, während sich die Situation in den USA praktisch in allen Bundesstaaten anders darstellt. Dort werden in verschiedenen Organisationsformen Diskussionen und Kurse z. B. über Streßmanagement im Beruf, über ethisches Verhalten, über Umgang mit menschlichen Problemsituationen angeboten. Selbsthilfeorganisationen ergänzen diese Angebot. Allen gemeinsam ist die nicht abweisbare Erfahrung, daß die Tatsache, Helfer zu sein, einen Menschen in einen hohen emotionalen Streßlevel und damit auch in eine chronische Dauerbelastung der privaten Beziehungen führen kann. Aufgrund dieser Erkenntnisse wird der Fokus auf Prävention gelegt: Impaired Physician Commitees und Physician Wellness Groups bieten Diskussionen und Seminare an, z. B. über immer wieder auftretende Problembereiche und Lösungen.

Was können Ärzte selbst tun, um ihre Lebensqualität im Sinne einer Psychohygiene zu verbessern?

Gerade in diesem Beruf scheint es nötig zu sein, daß man sich in einen sich immer wieder neu formierenden Prozeß der Selbstexploration bzw. der Selbstwahrnehmung begeben muß. Damit meinen wir z. B. die Beachtung der Signale aus unserer inneren Welt und die Analyse unserer momentanen beruflichen und privaten Lebensrealitäten sowie deren Wirkung auf uns. Eine solche Selbstreflexion erfordert natürlich Mut und auch Disziplin. Daß da vielfältige Widerstände wirksam werden können, liegt auf der Hand.

Die Beachtung der Prinzipien einer gesunden Lebensführung sollte eigentlich für Ärzte selbstverständlich sein. Realität ist aber wohl, daß Ärzte ihre Empfehlungen an die Patienten zu einer gesunden Lebensweise für sich selbst deutlich mißachten. Insbesondere sollte in der Planung des eigenen Tagesablaufs eine sekundärprophylaktische Lebensführung mit berücksichtigt werden. Dies würde bedeuten, sich bewußt mehr Zeit für Entspannung zu gönnen und selber auf ausreichende Bewegung zu achten.

Psychische Gesundheit des Arztes setzte auch die Fähigkeit zu Distanz und zu klaren Grenzziehungen voraus. Wer damit Schwierigkeiten hat, wird sich von den Patienten und ihren oft vielfältigen Wünschen nie eindeutig lösen können. Distanz und Grenzen können seitens des Arztes neben dem, was er an liebevoller, empathischer Aufmerksamkeit und realer Hilfe geben kann, nur dann angemessen wirken, wenn der Umgang mit Patienten nicht als wesentlichster Inhalt des Lebenssinns angesehen wird.

Solchen Gefahren können wir vorbeugen, wenn wir uns um die Organisation eines guten, zufriedenstellenden Privatlebens mit Partnern und Freunden bemühen. Vermutlich sind wir uns darüber einig, daß gute Arbeit auf Dauer nur der leisten kann, der einen guten privaten Ausgleich hat. So ist ein psychisch gesunder Arzt einer, dessen Lebensqualität die Fähigkeit ausmacht, zwischen Arbeit und Liebe ein angemessenes Gleichgewicht herzustellen.

Literatur

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McGovern, M. P., Angres, D. H., Uziel-Miller, N. D. & Leon, S. (1998). Female Physicians and Substance Abuse. Comparisons with Male Physicians Presenting for Assessment. Journal of Substance Abuse Treatment, 15, 525-533.

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Reiss, M. (1999). Sterben Ärzte früher? Die Mär vom kurzem Leben der Ärzte hält sich hartnäckig. Berliner Ärzte, (11), 24-25.

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Ross, M. (1973). Suicide among physicians. Diseases of the Nervous System, 34, 145-150.

Volkmann, B. von (1994). Sterben Ärztinnen eher als andere Frauen? Münster: Waxmann.

Walker, J. I. (1981). Coping with the Stress of Medical Practice. Connecticut Medicine, 45, 593-596.