Burnout deutscher Vertragsärzte

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Burnout deutscher Vertragsärzte Konsequenzen für die betroffenen Ärzte, ihre Patienten und das deutsche Gesundheitswesen
Immer häufiger klagen Ärzte in Deutschland über die steigende Arbeitsbelastung und zunehmenden Zeitdruck auf der einen und über einschneidende Kürzungen der Praxisbudgets und damit ihres Einkomnmens auf der anderen Seite. Den Ergebnissen einer Studie zur Arbeitszufriedenheit und Burnout-Gefährdung der deutschen Vertragsärzte zufolge sind mehr als drei Viertel der Befragten mit ihrer Arbeit nicht zufrieden, mehr als ein Viertel ist stark Burnout-gefährdet oder bereits ausgebrannt. Diese Aussagen sind durchaus alarmierend, vor allem wenn man an den einzelnen Menschen denkt, der dahinter steht, ebenso bedenklich sind sie aber auch hinsichtlich möglicher Auswirkungen für Patienten und das deutsche Gesundheitssystem.

Unzufriedenheit und Burnout der Ärzte

In der Untersuchung am Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum der Universität Erlangen-Nürnberg sind 170 niedergelassene Vertragsärztinnen und -ärzte verschiedener Fachrichtungen vorwiegend aus dem fränkischen und oberbayrischen Raum befragt worden. Dabei äußern sich 77,7% (132 Ärzte) resignativ oder unzufrieden über ihre vertragsärztliche Tätigkeit. Diese Unzufriedenheit geht mit der Überzeugung einher, dass man als Vertragsarzt keine hohen Ansprüche stellen kann, und hat auch negative Auswirkungen auf die Einstellung zur allgemeinen Lebenszufriedenheit. Maßgeblich beeinflusst wird das Urteil der Arbeitsunzufriedenheit vom Arbeitsinhalt mit seinen Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung, von der beruflichen Position, d. h. der beruflichen Entwicklung, Sicherheit und dem Einkommen, von der Bewältigung der Probleme im Umgang mit den Patienten sowie von den Meinungen der wichtigsten Bezugspersonen der Ärzte. Als Konsequenz haben auch schon 35,5% daran gedacht, die eigene Praxis aufzugeben. 27,7% der befragten Mediziner sind stark Burnout-gefährdet oder bereits ausgebrannt. Sehr bedeutend ist die damit verbundene emotionale Erschöpfung, die vor allem durch einen als negativ erlebten Arbeitsinhalt und den empfundenen Stress hervorgerufen wird. Hinzu kommen Probleme im Umgang mit den Patienten, die dann häufig nur noch als Objekte gesehen werden.

Burnout als Teufelskreis

Die vom Burnout betroffenen Ärzte befinden sich häufig in einem Teufelskreis. Arbeitsinhalte und -umfeld, die negativ erlebt werden, sowie Stress und mangelnde Sozialkontakte führen zu emotionaler Erschöpfung, Depersonalisation und reduzierter Leistungsfähigkeit. Der Arzt versucht häufig, seine Belastungen zu verringern, indem er sein Engagement zurücknimmt; damit bleiben aber die eigentlichen Probleme unangetastet, durch den Rückzug werden die Sozialkontakte noch schlechter, der Stress und nicht kontrollierte Kontrollfaktoren bleiben dagegen bestehen, so dass das Ausbrennen weiter voranschreitet.

Hilfen für die Betroffenen

Ein wichtiger Ansatzpunkt im Vorfeld möglicher Arbeitsunzufriedenheit bzw. Burnout-Gefährdung ist die Ausbildung des Vertragsarztes. Die bisher sehr klinikorientierte Aus- und Weiterbildung ist kaum in der Lage, den angehenden Arzt, vor allem im Bereich der Allgemeinmedizin, auf den „Patientenmix“ in einer ambulanten Praxis vorzubereiten. Im bestehenden System kann der einzelne Arzt nur für sich selbst für eine umfassende und praxisbezogene Aus- und Fort- bzw. Weiterbildung sorgen durch die Wahl der Vorlesungen und Famulaturen sowie späterer Assistenztätigkeit bei anderen niedergelassenen Ärzten. Hilfreich erscheint in diesem Zusammenhang auch, sich zunächst in einer Gemeinschaftspraxis oder Praxisgemeinschaft mit einem älteren und erfahrenen Kollegen niederzulassen. Dies gilt insbesondere auch für den Erwerb der notwendigen kaufmännischen und kassenabrechnungstechnischen Kenntnisse. Hinzu kommen Fähigkeiten zur Selbstbeobachtung und -einschätzung, eine Vorbereitung auf die anstehenden emotionalen Belastungen; der werdende Arzt muss ein Bewusstsein dafür bekommen, welche Wechselbeziehungen zwischen ihm und den Patienten entstehen und wie er damit umgehen kann. Der Arzt muss lernen, Schwerpunkte und Grenzen bei seiner Arbeit zu setzen, die gesetzten Ziele müssen realistisch sein, eine besondere Problematik in einem sozialen Beruf wie dem des Arztes, der mit den Bedürfnissen und Nöten der Menschen, dem Druck der Gesellschaft und vielleicht auch der eigenen Veranlagung zum Helfer konfrontiert wird: Er muss lernen, auch einmal ‘nein’ sagen zu können, wenn seine Leistungsgrenze erreicht wird, muss Zeit für sich selbst, seine Familie, private Freunde und zur Erholung finden, Arbeit und Privat- bzw. Familienleben klar voneinander trennen.

Hobbys und Interessen außerhalb der medizinischen Tätigkeit sorgen für Ablenkung und helfen Unzufriedenheit und Burnout vermeiden. Es ist wichtig, auf die eigenen Essgewohnheiten zu achten, sich ausreichend Bewegung und körperlichen Ausgleich zu verschaffen. Hilfreich sind auch Stress-Management- Techniken; so gehört es beispielsweise zum Zeit-Management, Unangenehmes, häufig verwaltungstechnische Aufgaben wie Anfragen von Versicherungen oder des Versorgungsamtes, nicht zu verschieben, bis der Berg unerledigter Arbeiten unendlich groß wird. Artgleiche Tätigkeiten wie Schriftverkehr, Telefonate oder kurze Mitarbeitergespräche sollten zusammengefasst und feste Zeiten dafür eingeplant werden. Ebenso wichtig wie die Maßnahmen auf der persönlichen Ebene ist der Aufbau interpersoneller Kontakte, die als soziale Stützsysteme dienen. Dazu gehören der private Rückhalt durch die Familie, aber auch das Feedback von Kollegen, fachliche Gesprächskreise oder Supervisionen, die bei der Rollenfindung und Vermeidung von Rollenkonflikten helfen können. Im Team einer Gemeinschaftspraxis oder Praxisgemeinschaft sowie in regelmäßigen Ärztekreisen können medizinische und andere Probleme besprochen werden; Treffen mit Kollegen dienen der Fortbildung und gegenseitigen Information, der Arzt findet Unterstützung in Menschen, die er früher vielleicht nur als Konkurrenz gesehen hat. Sie helfen ihm, sein Verhalten zu überdenken und neue Möglichkeiten für seine praktische Arbeit zu erkennen.

Die Mitarbeit in einer Gemeinschaftspraxis hat für den Arzt neben dem medizinisch qualifizierten Feedback durch den Kollegen den Vorteil, dass er relativ feste Arbeitszeiten einhalten, ohne komplizierte Organisation einer Vertretung auf Fortbildungen gehen oder in Urlaub fahren, anfallende Kosten aufteilen kann und bei Krankheit durch die feste Aufteilung des Praxisgewinns finanziell abgesichert ist. Ähnliche Vorteile bieten auch neuere Organisationsformen wie der Zusammenschluss mehrerer Ärzte in Form einer Genossenschaft oder zu einer Ärztebetriebs- GmbH mit gemeinsamer Gerätenutzung, Arbeitsteilung, einem Qualitätszirkel, Informationsvernetzung zwischen den Praxen und in der letzten Stufe gar mit einer gemeinsamen Budgetverwaltung. Hilfreich für den einzelnen Arzt kann auch eine Veränderung in der Arbeit, also der Arbeitsbedingungen, oder gar eine Veränderung der Arbeit an sich sein. Dazu gehören als Maßnahmen im Bereich der Arbeitsorganisation zum Beispiel vermehrtes Delegieren von Verwaltungstätigkeiten auf die Arzthelferinnen, eine andere Ausstattung der Praxis mit mehr oder weniger Praxispersonal, mehr oder weniger Geräten oder eine Reduzierung der Sprechstunden und Arbeitszeiten. Ebenso können Fortbildungsmaßnahmen und Spezialisierung den Arbeitsinhalt positiv verändern. Bei zu großer Arbeitsunzufriedenheit oder fortgeschrittenem Burnout kann dies aber auch die Aufgabe der bisherigen vertragsärztlichen Tätigkeit bedeuten, wenn beispielsweise die Kassenzulassung zurückgegeben wird und nur noch Privatpatienten behandelt werden, wenn ein Arbeitsplatzwechsel stattfindet, z. B. zurück in ein Krankenhaus, oder der Beruf völlig aufgegeben wird.

Da Burnout bzw. Arbeitszufriedenheit sich aber aus der Interaktion von Situation und spezifisch geprägter Person ergeben, können die vorgeschlagenen Interventionsstrategien nicht allgemein gültig sein; Maßnahmen, die bei der einen Person Burnout verhindern helfen oder zu Zufriedenheit führen, können bei anderen wirkungslos bleiben, so dass einfache Rezepte nicht möglich sind. Zu empfehlen ist vielmehr ein auf den jeweils Betroffenen abgestimmtes selektives Vorgehen, je nach Alter, Lebenssituation, Erwartungshaltung etc.

Bedeutung für die Patienten

Zwar wird sich der Patient in der Bundesrepublik Deutschland an gewisse Defizite im Rahmen der durch die gesetzlichen Krankenkassen abgedeckten medizinischen Versorgung gewöhnen müssen, was beispielsweise eine verstärkte Eigenvorsorge und die Übernahme bestimmter Leistungen, Eigenbeteiligungen oder Zuzahlungen betrifft, doch gerade unter diesem Gesichtspunkt wird er nicht auch noch qualitative Abstriche in der Arzt-Patienten-Beziehung hinnehmen wollen.

Unbefriedigende Arzt-Patienten-Beziehung

Aufgrund der gerade in jüngerer Vergangenheit einschneidenden Veränderungen durch die Gesundheitsreformen in den 90er Jahren besteht die Gefahr, dass nicht mehr der Mensch im Mittelpunkt der Tätigkeit des Vertragsarztes steht, sondern technokratische Aspekte, letztlich die Person des Arztes selbst sowie dessen Einkommen. Das Bemühen des Arztes darf aber nicht auf das eigene Interesse gerichtet sein, sondern auf das allgemeine Wohl seiner Patienten. Dabei ist es für den Patienten oftmals in erster Linie gar nicht von Bedeutung, ob eine Leistung des Arztes im Einzelfall wissenschaftlich gerechtfertigt ist oder allein mit dessen individueller Erfahrung begründet werden kann, sondern entscheidend ist, wie sehr er an den Erfolg glaubt. Dazu braucht er einen Arzt, der selbst von seinem eigenen Behandlungspotential überzeugt ist. Das kann aber kaum ein mit sich und seiner Arbeit unzufriedener oder gar ausgebrannter Arzt leisten; reduzierte berufliche Leistungsfähigkeit ist ein Element des Burnout, Symptome sind neben der negativen Einstellung zur Arbeit ein reduziertes Engagement für andere, Gefühle der eigenen Minderwertigkeit und Unzulänglichkeit, die sich zumindest unbewusst auf den Patienten übertragen und damit dessen erfolgreiche Behandlung gefährden können.

Sitzt der Patient einem solchen Arzt gegenüber, ist es für ihn an der Zeit, denselben zu wechseln. Denn dieser wird sich innerlich bereits von seiner Aufgabe verabschiedet haben, er ist wenig motiviert und bemüht, bringt gegenüber seinen Patienten eine negative Einstellung mit.Allerdings wird es für den Patienten oft schon schwierig sein, überhaupt einen guten Arzt, mit dem der Einzelne persönlich zurechtkommt, zu finden. Die Suche kann zum wahren Glücksspiel werden. Denn dem Patienten können kaum objektive Kriterien und Ratschläge an die Hand gegeben werden, es fehlen Angaben über Leistungsfähigkeit, Fachkompetenz oder Qualität der niedergelassenen Mediziner. Auch Ratschläge des überweisenden Arztes sind nicht unbedingt objektiv, hier spielen das Kollegialitätsprinzip und persönliche Präferenzen eine große Rolle. So muss sich der Patient ganz auf sein subjektives Gefühl verlassen. Entscheidende Fragen sind, ob der Arzt auf den Patienten eingeht, sich in ihn hineinversetzen und eine gute, entspannte Atmosphäre schaffen kann, ob der Patient dem Arzt vertraut, schließlich ob er sich von diesem als Mensch angenommen und sich nicht nur wie ein medizinisches und geldbringendes Objekt behandelt fühlt, sich gar mit herzlosen und zynischen Reaktionen des Arztes auf seine Probleme konfrontiert sieht.

Entsprechend den eigenen Wahrnehmungen auf dieser affektiven Dimension ist die Frage nach dem geeigneten Arzt durch jeden Patienten individuell zu beantworten, wobei als Grundlage auch Zufriedenheit auf der kognitiven Ebene, d. h. mit den vom Arzt gegebenen Informationen und Erklärungen, sowie mit der behavioralen Komponente, der Untersuchung und Behandlung durch den Arzt, herrschen muss. Diese subjektiven Komponenten, die Zufriedenheit des Patienten mit dem Arzt und dessen Behandlung beeinflussen auch den Therapieerfolg. Von den in einer repräsentativen Erhebung im Auftrag der Hamburg-Mannheimer- Stiftung für Informationsmedizin Befragten haben 14% von ihrem letzten Arztbesuch den Eindruck mitgenommen, dass sie wegen Zeitmangels nicht alle Themen hatten ansprechen können; 13% haben das Gefühl, dass sich der Arzt nicht für sie als Mensch, sondern nur für ihre Krankheit interessiert hat. Einen deutlichen Hinweis auf die relativ schlechte Stellung der Kassenpatienten und die damit bereits herrschende Zwei-Klassen-Medizin in Deutschland gibt die Tatsache, dass sich diese deutlich negativer äußern als Privatversicherte.

Einflussmöglichkeiten der Patienten

Wichtig für die Beziehung des Arztes zum einzelnen Patienten ist dessen Verhalten. Durch eine angemessene Erwartungshaltung kann der Patient den Stress, den der Arzt in der Beziehung empfindet, reduzieren und Burnout als Reaktion auf nicht kontrollierten Stress vermeiden helfen. Die häufigsten Erwartungen der Patienten betreffen Zeit und Intensität, mit der sich der Arzt ihnen widmet, ebenso wie genaue und kompetente Untersuchungen und Beratungen, aber auch kurze Wartezeiten auf einen Termin bzw. am Behandlungstag. Hierin liegt leicht ein Widerspruch in sich; intensives Bemühen um den Patienten lässt sich bei entsprechendem Andrang in der Praxis kaum mit kurzen Wartezeiten vereinbaren. Entsprechendes Verständnis und eine angemessene Erwartungshaltung des Patienten helfen nicht nur dem Arzt, den Erwartungen gerecht zu werden, sondern beeinflussen auch die Zufriedenheit des Patienten mit seiner Beziehung zum Arzt. Zudem sollte der Patient im Rahmen seiner Rolle mit dem behandelnden Arzt kooperieren. Dazu gehört eine entsprechende Compliance, die Vermeidung von Störungen durch Nichteinhaltung der Termine oder Telefonanrufe inmitten der Sprechstunde. Als sehr störend wird es von den Ärzten auch erlebt, wenn ein Patient am Ende eines Beratungsgesprächs wieder mit neuen Problemen beginnt. Schließlich kann Feedback eine offene Atmosphäre herstellen und die Arbeit des Arztes durch entsprechende Informationen erleichtern; insbesondere in seiner positiven Ausprägung kann es beim Arzt zu Zufriedenheit mit der Beziehung zu seinem Patienten und letztlich auch mit seiner Arbeit führen.

Handlungsbedarf im deutschen Gesundheitswesen

Zwar können die Kosten von Burnout für den Einzelnen und die Volkswirtschaft im Groben geschätzt werden, allerdings lassen derartige Erörterungen gegenwärtig in der Regel noch mehr Fragen offen, als sie beantworten können; es mangelt an ausreichend validem und reliablem Datenmaterial. Grundsätzlich sollte aber eine Analyse möglicher Maßnahmen gegen Burnout die Strategien im Einzelnen betrachten und ihre Effektivität bewerten.

Rahmenbedingungen der ärztlichen Tätigkeit

Die politischen Entscheidungsträger sind in großem Maße verantwortlich für die organisatorischen Rahmenbedingungen, die nicht direkt im Einflussbereich der betroffenen Vertragsärzte stehen. Eine Verbesserung der Stressbelastung und der Arbeitsbedingungen für die Ärzte könnte der Staat beispielsweise durch die flächendeckende Einführung eines ärztlichen Notdienstes in den Nachtstunden, am Wochenende und an Feiertagen erreichen, wodurch eine klare Trennung und Aufteilung von Arbeits- und Erholungsstunden als Maßnahme gegen das Ausbrennen ermöglicht würde. Die geringen Einflussmöglichkeiten der Ärzte auf das Gesundheitssystem spielen über ihre Wirkung auf die vertragsärztliche Tätigkeit und das Arbeitsumfeld eine wichtige Rolle für Arbeitszufriedenheit und Burnout der Ärzte.

Deutlich wird das in der zu Anfang erwähnten Untersuchung anhand der negativen Äußerungen von Ärzten in Bezug auf die gesundheitspolitischen Entwicklungen der letzten Jahre.

Ausbildung der Ärzte

Neben den im weiteren Verlauf noch zu betrachtenden systembezogenen und einkommenstechnischen Aspekten ist es im Rahmen der Organisation des Gesundheitswesens auch Aufgabe der politischen Entscheidungsträger, geeignete Maßnahmen im Bereich der Ausbildung der Ärzte zu ergreifen, die von den naturwissenschaftlichen Fächern bestimmt wird, während die psychologische und soziologische Schulung sowie betriebswirtschaftliche und rechtliche Aspekte vernachlässigt werden. Notwendig ist hier eine über die klinische Tätigkeit hinausgehende Vorbereitung für Ärzte, die sich als Vertragsarzt niederlassen wollen. Es gilt, diese sowohl mit den veränderten medizinischen Aufgaben als auch den Besonderheiten der vertragsärztlichen Tätigkeit vertraut zu machen. Dazu gehören auch ökonomische Bedingungen und Implikationen wie das Gebot der Wirtschaftlichkeit, Voraussetzungen zur Verordnung von Arbeitsruhe oder Krankenhauspflege etc.

Dies kann einerseits bereits im Rahmen der Universitätsausbildung, z. B. Veranstaltungen in den Bereichen BWL oder Kassenrecht, geschehen, andererseits ist es dazu auch notwendig, intensive praktische Erfahrungen zu sammeln.In der Praxis ist es allerdings sehr schwierig, Veränderungen im Bereich der ärztlichen Ausbildung durchzusetzen, zumal die Kompetenzen hier in der Bundesrepublik Deutschland zwischen Bund und Ländern verteilt sind; während die rechtliche Regelung der Ausbildung und Zulassung in der Verantwortung des Bundes liegt, sind die inhaltliche und formale Regelung der Weiterbildung und der Berufsausübung Sache der Länder und der jeweiligen Landesärztekammern. Diese Kompetenzaufteilung erschwert neue Regelungen im Rahmen des komplizierten Gesetzgebungsverfahrens. Als problematisch gilt in den letzten Jahren im Zusammenhang mit der Ausbildung die Zunahme der Ärztezahlen – zumal bei einer, wenn auch immer älter, so insgesamt doch kleiner werdenden Bevölkerung. Große Studentenzahlen sind nicht nur ein Problem für eine qualitativ hochwertige Ausbildung, sondern sie stehen auch im Gegensatz zu der immer geringer werdenden Neigung der Politiker, einen weiteren Anstieg der Gesundheitsausgaben zu tolerieren.

Sozialversicherungsgesteuertes Gesundheitssystem

Einen ersten Schritt zu derartigen Einschränkungen stellen die drei Stufen der Gesundheitsreform in den 90er Jahren dar, unter anderem verbunden mit Zulassungsbeschränkungen und Einkommenseinbußen für niedergelassene Vertragsärzte. Die Zulassungsbeschränkungen erscheinen allerdings wenig geeignet, die Gesundheitsausgaben zu senken; diese sind weitgehend unabhängig von der Arztdichte, beispielsweise haben die Mittelmeerländer bei einer sehr hohen Zahl von Ärzten ein relativ geringes Ausgabenniveau.

Weitaus höhere Korrelationen ergeben sich dagegen mit dem Index des ärztlichen Angebots und den Arzteinkommen. Als mustergültiges Beispiel kann hier Finnland in den 80er Jahren gelten, das ein ausgebautes Angebot an medizinischen Dienstleistungen mit einer bemerkenswerten Kostenkontrolle verknüpft. Dagegen muss das ärztliche Angebot in Deutschland kombiniert mit hohen Arzteinkommen als herausragender Kostentreiber gelten. Die Finanzierung des deutschen Systems über Zwangsabgaben und fehlende Marktmechanismen führen immer wieder zu Kostendämpfungsversuchen über staatliche Interventionen. Auch die Festschreibung der Mittel und damit verbundene Budgetierung von Leistungen und Umstellung der Honorierung auf eine Pauschale im Rahmen des 2. NOG hat zu keiner Lösung des Problems geführt. Andererseits ist auch versucht worden, im Gesundheitswesen mehr Markt zuzulassen und zumindest in Teilbereichen die Nachfrage von persönlichen Präferenzen und damit auch der Zahlungsfähigkeit der Patienten abhängig zu machen. Doch auch das Kostenerstattungsprinzip, zum Beispiel im zahnmedizinischen Bereich, oder die Erhöhungen der Zuzahlungen zur Vermeidung eines vermeintlichen Nulltarifs medizinischer Leistungen und Stärkung der Eigenverantwortlichkeit sowie als direkte Finanzierungsquelle für die Krankenversorgung der Sozialversicherten konnten das Finanzierungsproblem nicht beseitigen, haben dafür aber den Trend zur Zwei-Klassen-Medizin weiter verstärkt. Diese Untergrabung des Solidaritätsprinzips gilt auch für die Einführung von Karenztagen, Gebührenmodellen für die vertragsärztliche Versorgung, Kaskomodellen, Beitragsrückerstattungen bei Nichtinanspruchnahme medizinischer Leistungen oder Wahltarifen.

Alle Selbstbeteiligungsmodelle treffen insbesondere die Einkommensschwächsten, zugleich die gesellschaftliche Gruppe mit dem höchsten Krankheitsrisiko, sowie chronisch Kranke. Eine Eigenbeteiligung an ambulanten Behandlungen würde zu einer Verschleppung von Krankheiten und letztlich noch höheren Heilungskosten führen; damit widerspricht sie auch dem Prinzip der Prävention. Bei dem zuletzt genannten Modell der Wahltarife stellt sich zudem die Frage, welche Leistungen künftig von den Kassen als Grundleistungen bis zu welcher Höhe übernommen werden sollen. Es ist aber unmöglich, generell wichtige und sinnvolle Leistungen von den überflüssigen zu trennen und eine Positivliste wünschenswerter Leistungen zusammenzustellen, da Prävention und Therapie immer vom Einzelfall abhängen. Die ursprünglich vorhandene Freiheit im System der vertragsärztlichen Versorgung mit freier Arztwahl und Therapiefreiheit im Rahmen des Arzt-Patienten-Verhältnisses ginge dadurch verloren. Zudem würde dies zu einem Gesundheitstourismus in Billigländer der Krankenbehandlung führen, ähnlich wie jetzt in Schweden Pauschalreisen mit Operationstermin im Ausland angeboten werden. In den USA hat die Errichtung der Health Maintenance Organizations HMOs durch die Preisgestaltung im Rahmen des privatwirtschaftlichen Wettbewerbs, Stärkung der Selbstbeteiligung und zudem durch Ausweitung präventiver Bemühungen sowie ein umfassendes Betreuungsangebot bisher zu einer erfolgreichen Kostenkontrolle geführt.

Noch besser sind auf wirtschaftlichem Gebiet die ersten Resultate der seit Beginn der 90er Jahre in der Schweiz errichteten HMOs. Durch die Zusammenführung von Versicherungsträgern und Anbietern medizinischer Leistungen haben aber die Ärzte ein Kernstück ihrer beruflichen Autonomie aufgegeben, sie sind abhängig vom Management und wirtschaftlichen Vorgaben, die bis in die Organisation des ärztlichen Arbeitsablaufs durchschlagen können. Durch die Einführung direkter Verträge zwischen den Vertragsärzten und den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung könnte zwar die nivellierende Wirkung der Gesamtverträge vermieden und die Kassenärztliche Vereinigung als Abrechnungsstelle und damit zusätzlicher Kostenfaktor abgeschafft werden, jedoch würde dies zu einem Konkurrenzkampf zwischen den Ärzten führen, der zwar einerseits Preise senken könnte, andererseits aber für den Patienten undurchsichtig wäre und auf dessen Rücken ausgetragen würde, wenn in der Folge die Kassen ihren Mitgliedern beispielsweise vorschreiben würden, welchen Arzt sie aus Kostengründen zu konsultieren haben; Patienten lassen sich in ihrem Handeln nicht von sachlichen und ökonomischen Aspekten leiten, sondern eher von Vertrauen und Hoffnung.

Das Gegenteil zum rein marktwirtschaftlichen System findet sich beispielsweise in Großbritannien; der Arzt des National Health Service unterliegt keinen wirtschaftlichen Zwängen, für ihn gibt es nicht die Notwendigkeit, um seinen Patientenstamm zu kämpfen, den sein deutscher Kollege benötigt, damit seine Vertragsarztpraxis wirtschaftlich überlebt. Ähnlich bietet das finnische Modell, gerühmt für seine günstige Bilanz zwischen Gesundheitsversorgung und -kosten, seinen Bürgern eine freie Grundversorgung in Kliniken und Gesundheitszentren bei einer partiellen Kostenerstattung für die eher seltene Konsultation frei niedergelassener Ärzte; die medizinische Versorgung wird zentralstaatlich geplant und finanziert. Als Angestellter des Staates hätte der deutsche Arzt ein gesichertes Einkommen, aber er hätte – durchaus vergleichbar mit den Konsequenzen einer Einbindung in rein privatwirtschaftliche Health Maintenance Organizations – auch seine Freiheit und Selbstständigkeit als niedergelassener Arzt verloren. Gerechtfertigt wäre eine Anstellung der Vertragsärzte im öffentlichenDienst durch Art. 33 IV GG, da es sich bei der Sorge um die Gesundheit der Bevölkerung um die Ausübung einer hoheitsrechtlichen Aufgabe handelt, ist doch die Gesundheit eines der höchsten Güter des Menschen. Andererseits würde dies die Abschaffung eines freien Berufes bedeuten, der in der Bundesärzteordnung festgeschrieben ist; dies hätte sicherlich massive Proteste der Ärzteschaft zur Folge.

Fest steht jedoch, dass der Druck ständiger Kostensteigerungen die ärztliche Autonomie zunehmend bedroht, sei es durch privatwirtschaftliche Zwänge wie in den HMOs oder durch die mögliche Einführung eines staatlichen Systems. Ähnlich der Organisation in Großbritannien, wo sich der Bürger in einem Health Centre einschreibt und dann dieses konsultiert, wird auch für Deutschland häufig ein konsequentes Hausarztsystem gefordert, in dem die medizinische Grundversorgung und Koordination weiterer Maßnahmen in den Händen eines bestimmten Arztes liegt, beispielsweise Überweisungen zu Fachärzten oder Einweisungen in Krankenhäuser nur von diesem vorgenommen werden können. Zwar ist in der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Gesundheitsreform versucht worden, die Stellung des Hausarztes z. B. durch die Höherbewertung von Gesprächsleistungen zu stärken, dies scheint aber nach Aussage der Vertragsärzte nicht geglückt zu sein. Einen Schritt in diese Richtung hat ebenfalls eine private Krankenkasse getan, die denjenigen Versicherten einen günstigeren Tarif anbietet, die sich verpflichten, vor der Konsultation eines Facharztes zunächst immer den Hausarzt aufzusuchen; ähnlich stehen bei dem von der AOK angedachten Hausarzt-Abo im Mittelpunkt der hausärztlichen Tätigkeit weitreichende Koordinations- und Kooperationsaufgaben, die Vergütung würde sich aus einer Basispauschale pro Behandlungsfall ergänzt um Leistungskomplexe für die wichtigsten, zeitintensiven Aufgaben der hausärztlichen Versorgung wie die Betreuung pflegebedürftiger Patienten, zeitaufwendige Beratungsgespräche mit chronisch Kranken, Besuche und Visiten etc. zusammensetzen.

Im Interesse des Patienten ist aber darauf zu achten, dass dessen freie Arztwahl erhalten bleibt und bei einer Störung der Arzt-Patienten-Beziehung der Hausarzt gewechselt werden kann. Von den fachärztlichen Berufsverbänden wird ein solches Primärarztsystem aus verständlichen Gründen abgelehnt, einige befürworten aber durchaus die Vernetzung von Haus- und Fachärzten in der ambulanten Versorgung.

Fazit

Trotz einiger Rücknahmen bezüglich der letzten Gesundheitsreform durch die neue Regierung, z.B. Senkung der Zuzahlung, Zahnersatz für Jugendliche, ist in Deutschland eine Zwei-Klassen-Medizin zu befürchten; gegenwärtig scheint das deutsche System im Zuge immer weiterer Einsparungen auf eine Kombination einer auf das Notwendigste beschränkten Grundversorgung, sogenannter Kernleistungen, und privat abzudeckender Zusatzleistungen hinauszulaufen. Sind aber die für den Einzelnen geeigneten Maßnahmen von dessen finanziellen Möglichkeiten abhängig, ist das Ende des im Grundgesetz festgeschriebenen Sozialstaates und des entsprechend auf dem Prinzip der Solidarität beruhenden Gesundheitswesens in der Bundesrepublik Deutschland programmiert. Weiterhin würde das freie Spiel der Marktkräfte zwischen Angebot und Nachfrage die Konkurrenz zwischen den Ärzten verstärken und könnte zur Ausbeutung hilfloser Patienten führen, die vertrauensvoll Hilfe beim Arzt suchen und in ihren Rollenerwartungen an den Arzt, insbesondere bezüglich dessen Interesse an ihrem allgemeinen Wohl, zutiefst enttäuscht würden.

Langfristig wird eine grundlegende Veränderung des gesamten Gesundheitssystems als notwendig erachtet. Eine rationale Gesundheitspolitik, die kostengünstig, bedarfsgerecht und wirksam sein soll, hat nur begrenzte Realisierungschancen im deutschen dezentral organisierten und sozialversicherungsgesteuerten Versorgungssystem, das zwischen einer rein marktwirtschaftlichen Versorgung und einem staatlichen System liegt. Es ist nicht zu auszuschließen, dass sich das deutsche System langfristig eher auf eine staatlich gelenkte Organisationsstruktur hin entwickeln wird. Im Rahmen der EU wird es auf Dauer zu einer Angleichung unterschiedlicher Systeme kommen, auch wenn bislang die Maastrichter Verträge die Gesundheitspolitik als ausdrücklich nationale Aufgabe definieren. Die Modelle in Großbritannien und Skandinavien könnten – trotz der damit bekannterweise verbundenen Probleme – eine Vorreiterrolle spielen. Vorteil der Europäisierung wären in jedem Fall sinkende Kosten, insbesondere bei den Medikamenten, die heute in den Mittelmeerländern häufig zu einem wesentlich günstigeren Preis erworben werden können als in Deutschland.

Dr. Renate Rottenfußer

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