Der Kranke Arzt- Chance zum besseren Verständnis des Patienten

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Chance zum besseren Verständnis des Patienten
Der kranke Arzt Der ärztliche Werdegang prägt den Umgang mit der eigenen Krankheit. Solche Erfahrungen können ober auch für die ärztliche Fort- und Weiterbildung genutzt werden.

Seit dreißig Jahren bin ich Arzt, und seit drei Jahren bin ich krebskranker Patient. Vom Beginn meiner Patientenkarriere an habe ich gespürt, dass dieses Geschehen bedeutend für mein Arzt sein werden und dass umgekehrt mein Arztsein einen besonderen Umgang mit der Krankheit bewirken würde. Diese Interdependenz hat sich in den vergangenen Jahren bestätigt und dazu geführt, mich eingehender damit auseinander zu setzen. Eine erste Überraschung war, dass sich zu diesem Thema so gut wie keine wissenschaftliche Literatur fand. Meine Kenntnisse aus der Literatur zum Thema “Arzt und eigene Krankheitserfahrung” sind also spärlich, meine Selbsterfahrung aber groß, so dass ich trotz fehlender wissenschaftlich gesicherter Fakten wagen will, Thesen zur Diskussion zu stellen und diese zu einer berufspolitischen Forderung zuzuspitzen.

Wie wirkt sich das Arztsein auf den Umgang mit eigener Gesundheit und Krankheit aus? Zur Beantwortung dieser Frage soll die typische Patientenkarriere eines Arztes konstruiert werden.

Die ganz normale Hypochondrie

Unser Mediziner, nennen wir ihn Schmidt, beginnt mit dem Medizinstudium und ist bald mit zu präparierenden Leichen in der Anatomie und im Sektionssaal sowie mit ersten Kranken in den klinischen Fächern konfrontiert. Er reagiert in der Weise, dass er die Faktizität des Leidens und Todes auf sich selbst bezieht und bei kleinsten Symptomen Ängste vor ganz bestimmten Erkrankungen entwickelt, die er gerade direkt am Menschen oder im Lehrbuch kennen gelernt hat. Er sieht sich den Symptomenkatalog dieser Erkrankungen noch einmal an und stellt mit Schrecken fest, dass er einen Großteil dieser Symptome von sich kennt, oder er entwickelt sie in der Nacht darauf.

Schmidt leidet also unter einer reaktiven Hypochondrie. Entweder er verbietet sich strikt diesen Unsinn und trinkt weiter sein Bier, oder er geht mit großer Angst zum Arzt, um den Morbus Hodgkin oder den Hodenkrebs’ bestätigt zu bekommen. Auch dies endet mit dem Verbot der Hypochondrie – denn alle Befunde sind negativ, und normalerweise findet sich ein erfahrener väterlicher Kollege, der Schmidt milde lächelnd klarmacht: ,Das habe ich auch als junger Medizinstudent erlebt, das geht vorbei.” Schmidt ist beruhigt und ab sofort gesund, egal wie stark der Körper sich bemerkbar macht, und hiermit ist das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Die Hypochondrie ist verboten, und die Warnsignale bei beginnenden Krankheiten sind es leider auch: Schmidt ist gesund, das hat so zu sein, das ist so.

Diese Verdrängung, Verleugnung oder Dissimulation alles Kranken im eigenen Organismus wird nun durch den nächsten Schritt im Mediziner-Dasein immens verstärkt. Der nunmehr approbierte Arzt lernt durch seine unmittelbare tägliche Erfahrung, dass Patienten krank und Ärzte gesund zu sein haben. Beispielsweise teilt ihm sein Chef mit, dass er in 30 Berufsjahren nicht einen Tag gefehlt habe. Er lernt auch, noch mit 38,4 Grad Celsius hochkonzentriert am Operationstisch zu stehen. Und falls doch einmal ein Arzt krank sein sollte, dann ist er alt gewesen – und das bin ich ja noch nicht, denkt Dr. Schmidt. Schließlich möchte Dr. Schmidt Vorbild für seine Patienten sein – also Gesundheit und Lebenskraft ausstrahlen.

Ärztemuster zur freien Auswahl

Nach jahrzehntelanger Arbeit als Arzt mit strotzender Gesundheit schleichen sich aber doch Symptome ein, die hartnäckig dem Verbot von Hypochondrie widerstehen und einfach nicht weggehen wollen: Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Magenschmerzen, Erschöpfung und Überdruss. Aber es gibt gegen diese lästigen Wehwehchen zum Glück in den Schränken auf der Station oder in der Praxis Ärztemuster zur freien Auswahl: Analgetika, Benzodiazepine, Histamin-H2-Blocker oder Antidepressiva. Nach der Hypochondrie und der zum Dogma erklärten Gesundheit macht Dr. Schmidt jetzt die dritte Phase durch. Er behandelt Symptome mit heimlicher, manchmal sporadischer, oft auch zu Abhängigkeit führender Selbstmedikation. Auf keinen Fall geht Dr. Schmidt zum Arzt. Er ist doch selber einer, weiß es deshalb besser, und Dr. Schmidt misstraut Kollegen. Er weiß, dass überall nur mit Wasser gekocht wird.

Aber eines Tages – und dann leider oft zu spät – bricht der Staudamm. Die Angst überflutet das Bewusstsein, und/oder ein Symptom macht objektiv arbeitsunfähig. Nun steigt Dr. Schmidt in die vierte Phase nach Hypochondrie, dogmatischer Gesundheit und Selbstmedikation ein. Er akzeptiert es, krank zu sein, und sucht einen Arzt auf. Dieser vermag vielleicht nichts eindeutig zu diagnostizieren; dann wiederholen sich die oben angegebenen Phasen, nur dass Dr. Schmidt darin bestätigt ist, wiederum hypochondrisch zu sein, und sich deshalb um so mehr alle subjektiven Krankheitssignale verbietet. Angenommen, der Arzt findet aber eine objektiv, instrumentell fassbare Krankheit. Dann bat Dr. Schmidt auch für sich selbst unwiderlegbar diese Krankheit. Das ist in gewisser Weise erleichternd; denn wenigstens ist er kein Hypochonder mehr.

Jetzt heißt es für Dr. Schmidt, vernünftig zu sein. Als wissenschaftlich ausgebildeter und praktizierender Arzt geht er mit sich selber auch wissenschaftlich um. Er ist nicht krank, sondern er hat eine Krankheit, die er sich im Labor oder auf dem Röntgenbild ansehen kann. Außerdem gibt Dr. Schmidt so schnell nicht auf. Die Krankheit ist eine Sache, die diagnostiziert, therapiert und ausgemerzt werden muss. Als Arzt jedoch, der diese Krankheit wie die eines anderen Patienten ansieht und behandelt, ist und bleibt er gesund. Die Krankheit ist ihm fremd, sie gilt es zu vernichten, herauszuschneiden, von ihm als gesundem Arzt abzutrennen.

Dr. Schmidt konsultiert in eigener Sache Kollegen; es sind mehrere Kollegen, weil er sich nicht entschließen kann, einem allein zu vertrauen. Als Person ist er auch für die behandelnden Ärzte beileibe nicht krank. Er wird als mit-diagnostizierender und mit-therapierender kompetenter, also gesunder Kollege angesehen und respektiert. Der Kollege – gegenüber dem Kollegen Patienten ein bisschen befangen und unsicher – ist froh, mit dem Kollegen von Kollege zu Kollege über den gemeinsamen Fall fachlich qualifiziert diskutieren zu können. Denn darin kennen beide sich aus, und schließlich wollen sie sich auch gegenseitig beweisen, dass sie kompetent sind und eine hochqualifizierte Fallbesprechung zu Wege bringen – der Fall ist dabei fast zufällig nicht ein dritter Patient, sondern einer der beiden Ärzte.

Dr. Schmidt, der zunächst froh war, als Kollege ernst genommen zu werden, stellt bald fest, dass sein subjektives Verhalten nicht mit dem diagnostischen und therapeutischen Wissensstand korrespondiert. Vor der Tumormarkerkontrolle drückt er sich aus Angst vor einem Anstieg, und Calcium-Tabletten nimmt er einfach nicht ein, weil sie ihm zu groß sind. Schließlich hat er genug davon, von den ärztlichen Kollegen immer nur gesagt zu bekommen: ,Sie als Kollege wissen am besten, was für Sie gut ist.” Er fühlt sich dadurch allein gelassen und sehnt sich nach einer Autorität, die wirklich für ihn sorgt, der er vertrauen kann. Er sehnt sich nach einem Arzt, der kompetent ist, der sich wirklich für ihn engagiert und in seinen Vorschlägen souverän und unabhängig ist. Hier kommt Dr. Schmidt in die fünfte Phase. Er wird von Dr. Schmidt, dem gesunden Arzt, der eine Krankheit hat, zu Schmidt, dem kranken Arzt und Patienten, der zwar mitreden und mitbestimmen möchte, aber nicht mehr als Arzt, sondern als Leidender. Er möchte, dass sein Vertrauensarzt ihm verständnisvoll und warmherzig zuhört, sich aber auch – wenn es medizinisch angemessen ist – ihm gegenüber durchzusetzen versucht. Hier verlassen wir Schmidt, den Patienten, denn ab hier ist seine weitere Krankheitskarriere nur noch wenig von seinem Arztsein bestimmt.

Auswirkungen auf das Arzt-Patienten-Verhältnis

Aber Dr. Schmidt hat bei all dieser privaten Stellung zum eigenen Gesund- und Kranksein doch auch einen Beruf: Er ist Arzt und er behandelt andere Patienten. Wie kann sich diese etwas überzeichnete Krankengeschichte eines Arztes auf dessen Behandlungsmethoden auswirken?

Zunächst die negativen Möglichkeiten: Hypochonder und aggravierende Patienten, überhaupt Patienten mit somatoformen Störungen werden von Dr. Schmidt nicht voll akzeptiert und abgewertet, solange er diese Symptome bei sich selbst nicht akzeptieren kann. Gerade weil Dr. Schmidt später von Zeit zu Zeit heimlich zur Selbstmedikation greift und er darüber ein schlechtes Gewissen hat, kann er Selbstmedikation und erst recht abhängigkeitsgefährdende Drogeneinnahme bei Patienten nur verurteilen. Dadurch ist ihm der verständnisvolle Blick verstellt.

Chance zum besseren Verständnis des Patienten

Da Dr. Schmidt mit eigener Krankheit sachlich wissenschaftlich umzugehen gedenkt, falls er wider Erwarten irgendwann krank werden sollte, erwartet er gleiches auch von seinen Patienten. Durch seinen Behandlungsstil hält er sie an, Krankheit grundsätzlich als fremde Sache begreifen zu lernen, die nicht zu ihnen gehört und zu vernichten ist. Das mag für viele Patienten und Krankheiten das angemessene Verfahren sein. Aber diese Sicht ist einseitig und macht blind für anderes. Das Kranksein als bedeutsame Lebensäußerung, als Lebensveränderung und als subjektives Leid – ebenso wie die Gesundung durch Selbstheilungskräfte – wird vernachlässigt, solange der Arzt selber noch in seiner versachlichenden krankheitsentfremdeten Phase steckt. Deswegen kann Dr. Schmidt auch genuin seelische Erkrankungen weniger akzeptieren als körperliche. Sie lassen sich nicht strikt abgegrenzt als fremde Sachen fassen.

Dr. Schmidts eigenes Kranksein kann auch positive Auswirkungen auf die Behandlung seiner Patienten haben. Dazu kommt es aber erst, nachdem er beschlossen hat, zum Arzt zu gehen, eine objektive Krankheit diagnostiziert wird und Dr. Schmidt dies akzeptiert. Plötzlich kann er Patienten, die er wegen ihres Misstrauens, ihres Kontrollbedürfnisses, ihrer Anspruchshaltung und ihrer Arztwechselei gefürchtet und abgewertet hat, von innen heraus verstehen. Denn er ist selber misstrauisch, muss kontrollieren, hat hohe Ansprüche und braucht mehrere Ärzte. In den Patienten mit Angst vor körperlichen Krankheiten erkennt Dr. Schmidt nun sich selbst. Da seine eigene Angst letzten Endes berechtigt war, kann er sie jetzt bei den Patienten besser akzeptieren, mehr noch, es entsteht eine erkennende Resonanz, die von den Patienten dankbar aufgenommen wird. Dies gilt allerdings nur, wenn Schmidt gelernt hat, mit der Angst zu leben oder sie gar zu überwinden.

Patienten mit seelischem Leid infolge körperlicher Erkrankung ermöglichen dem Arzt, etwas von seinem eigenen Leid zu spüren. Wie bei der Angst führt dies auch wieder zu produktiver Resonanz, wenn Dr. Schmidt gelernt hat, sein Leiden zu verarbeiten. Patienten mit Schmerzen sind für ihn, auch wenn sie diese stark betonen, keine aggravierenden Patienten mehr. Er weiß, wie gravierend seine eigenen Schmerzen zum Beispiel in einsamen Nächten waren, und auch wenn er dies dem Patienten nicht sagt, spürt dieser die Gemeinsamkeit und lebt darüber auf.

Patienten mit negativer Compliance, die Dr. Schmidt immer heimlich verachtet hat, verachtet er nie mehr, ist er doch selber ein Patient, der mal mit positiver, mal mit angeblich negativer Compliance reagiert, das heißt autonom und oft auch irrational entscheidet, welche Behandlungsangebote er annimmt und welche er verwirft oder vergisst.

Er lernt, besser zuzuhören und den Patienten seine Wärme und seinen Schutz zu geben, weil er selbst Ärzten und Schwestern unendlich dankbar ist, die ihm dies in Zeiten von Krankheitskrisen gegeben haben. Zu Patienten mit ähnlicher oder gleicher Diagnose bildet sich ein neues intensives Vertrauensverhältnis heraus, weil die horizontale Beziehung Patient/Patient die vertikale Beziehung Arzt/Patient ergänzt, ohne dass der Arzt viel an seiner Kommunikationsstruktur geändert hat. So wird Dr. Schmidt, nachdem er seinen frisch entdeckten Diabetes im Griff hat, zum Diabetes-Spezialisten.

Seine Patienten fühlen sich bei ihm besser aufgehoben als bei einem gesunden Arzt. (Ich selbst hatte früher vor Krebspatienten und ihrem Schicksal Angst, heute sind sie meine Lieblingspatienten.) Das Verständnis des Arztes für die Neigung vieler Patienten zu Wegen abseits der Schulmedizin nimmt deshalb zu, weil er selbst solche Wege erwogen hat oder auch schon gegangen ist.

Bei allen positiven Auswirkungen der eigenen Erkrankung auf die Behandlung von und die Beziehung zu Patienten darf jedoch nicht vergessen werden, dass diese in der Regel erst eintreten, nachdem der Arzt ernsthaft und unübersehbar körperlich krank geworden ist und dies selbst gut verarbeitet hat.

Vorher, und das gilt für den Großteil der ärztlichen Tätigkeit, drohen eher die negativen Auswirkungen: die Abwertung von Patienten mit somatoformen Störungen, die Ausgrenzung von Erkrankungen als objektivierbare, fremde Störungen und die Abwertung von Patienten, die ein ganzheitlicheres Krankheitsverständnis und Krankheitserleben haben.

Wichtiges Thema für die ärztliche Fortbildung

Die Krankheitskarriere von Dr. Schmidt macht deutlich, dass der Umgang des Arztes mit eigener Gesundheit und Krankheit bedeutsame Auswirkungen auf die Behandlung der Patienten hat. Dieses Zusammenhangs ist sich der Arzt bis zum eigenen Krankheitsfall kaum je bewusst. Aber nur durch die Wahrnehmung dieser Zusammenhänge hat der Arzt die Chance, in seiner Beziehung zu den Patienten die negativen Auswirkungen zu vermeiden und die positiven auszubauen. Dies aber geht am besten im Gespräch mit anderen sympathisierenden Betroffenen, die vielleicht manchmal mehr sehen, als man selber sehen möchte. Nötig erscheinen daher Selbsterfahrungsgruppen zum vertraulichen, empathischen Gespräch über den Umgang mit eigener Erkrankung während des Studiums und der Facharztausbildung. Wichtig wäre zudem der Einbau dieses Themas in die ärztliche Fortbildung mit Qualitätszirkeln, Balintgruppen und Supervisions-Gruppen. Angesichts der bisher fast tabuartigen Ausgrenzung dieses Themas wird bis dahin allerdings noch ein langer Weg zu gehen sein.

Zitierweise dieses Beitrags: Dt Ärztebl 2000; 97: A-237-240 (Heft 51)

Anschrift des Verfassers
Dr. med. Thomas Ripke
Facharzt für Allgemeinmedizin
Lehrbeauftragter für Medizinische Psychologie an der Universität Heidelberg Mönchhofstraße 11
69120 Heidelberg