Süchtige Verhaltensweisen im Bereich der Sexualität

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Nichtstoffgebundene Abhängigkeit

Süchtige Verhaltensweisen im Bereich der Sexualität oder kürzer ausgedrückt Sexsucht sind ein wenig bekanntes, teilweise umstrittenes, teilweise tabuisiertes Phänomen. Weit davon entfernt, Träger einer als ,offiziell” anerkannten Krankheit zu sein, treffen die sexsüchtigen Menschen gegenwärtig auf eine Mischung von ungläubigem Staunen, moralischer Abwertung, therapeutischem Nihilismus oder ehrlichem ,,Damit kenne ich mich nicht aus”, wenn sie bei Ärzten, Therapeuten oder Seelsorger Hilfe suchen. Nicht selten begegnen sie auch kaum verhohlenen Neidäußerungen: “Mensch seien Sie doch froh! Wenn ich schon eine Abhängigkeit haben müßte, dann am liebsten die von Sex.” Wer so spricht, zeigt, daß er von dem Leid, der Scham, der subjektiven Ausweglosigkeit der Betroffenen Männer und Frauen und ihrer Angehörigen keine Ahnung hat. Sexsucht hat so wenig mit Spaß zu tun, wie eine fortgeschrittene Alkoholkrankheit mit Genug. In Tab. 1 sind einige Beispiele süchtigen sexuellen Verhaltens aufgeführt.

Die Betroffenen folgen oft einem inneren Zwang, der sie gegen jede Vernunft und Selbstachtung immer wieder sexuelle Situationen phantasieren, aufsuchen und ausleben läßt, stellenweise mit tiefer Erniedrigung, situativer Eigen- und Fremdgefährdung (AIDS), finanziellem und partnerschaftlichem Desaster. Aus klinischer Sicht scheint die Sexsucht in ihren Auswirkungen sogar noch destruktiver als die Alkoholsucht zu sein. Das Phänomen ist auch keineswegs neu. Bereits in den 60erjahren hat Giese (10) in Deutschland sexuelle Süchtigkeit beschrieben und charakteristische Leitsymptome herausgearbeitet. Nachdem aber sowohl bei Ärzten, bei Psychotherapeuten als bei Suchttherapeuten eine Grundkenntnis oder Weiterbildung für Sexualtherapie (18) weitgehend fehlt, kommen diese eigentlich bekannten Wissensbereiche selten zur Anwendung. Betroffene Sexsüchtige äußern dann auch, sie fühlen sich allein gelassen, moralisch abqualifiziert wie vor 80 Jahren Alkoholiker und fühlen sich am ehesten verstanden in den Selbsthilfegruppen Betroffener wie z. B. SA (Anonyme Sexsüchtige) oder Anonyme Sex und Liebessüchtige.

Angaben zur Häufigkeit süchtiger Verhaltensweisen im Bereich der Sexualität erscheinen unsicher und schwanken; angeblich sind 3-6% der Erwachsenen in den USA sexsüchtig. Durch die Veröffentlichungen von Carnes (4-6) und sein Auftreten in den Massenmedien bekamen viele Betroffenen Mut, sich zu outen und zahlreiche Selbsthilfegruppen zu gründen. Gegenwärtig sind in den USA deutlich mehr Kliniker damit beschäftigt, sexsüchtigen Patienten qualifizierte Hilfe zukommen zu lassen. Es gibt etwa (Stand 1996) 5 vollstationäre und 50 teilstationäre Einrichtungen, um Betroffenen zu helfen. Demgegenüber sind uns in Deutschland bisher keine Kliniken bekannt, die eine Spezialstation für sexsüchtige Patienten betreiben. Es gibt jedoch deutsche Kliniken, die eigene Indikationsgruppen für Sexsüchtige haben und über mehrjährige Erfahrungen hiermit verfügen. So ist dieses Kapitel aus der Zusammenarbeit zwischen einem deutschen Kliniker, der unter seinen süchtigen Patienten immer wieder auch solche mit süchtigen Verhaltensweisen im Bereich der Sexualität hatte (und z. T. nicht genau wußte, wie er Ihnen effektiv helfen konnte), und einem amerikanischen Kliniker entstanden, der sich seit Jahren schwerpunktmäßig mit Sexsüchtigen beschäftigt und eine Spezialstation für solche Patienten an der Menninger Clinic, Topeka leitet. Wir hoffen damit weitere Diskussion, Forschung und Ausweitung der Behandlungsmöglichkeiten für die von Sexsucht Betroffenen auch in deutschsprachigen Ländern zu fördern.

Diagnosestellung

Die Diagnosestellung einer Sexsucht ist nach wie vor schwierig. Zum einen ist die Bandbreite der sog. normalen Sexualität enorm und geht gleitend über in eine süchtig mißbrauchende, zum anderen ist die kurzfristige auch extrem gelebte sexuelle Oberaktivität z. B. im Rahmen einer partnerschaftlichen Trennungssituation etwas anderes, wie eine über viele Jahre verlaufende, progressive süchtige Verhaltensweise im Bereich der Sexualität. Man denke nur an die Schwierigkeit, genau zu sagen, ob ein bestimmter Mensch alkoholkrank ist oder nicht. Grundsätzlich wird für diejenigen mit süchtigen sexuelles Störungen (addictive sexual disorders) Sex zum durchgehenden Organisationsprinzip, welches das ganze Leben invasiv durchdringt und bestimmt. Es finden sich zunehmend einige Zeichen, die parallel zu anderen Süchten, die Sexsucht charakterisieren:

  • sexuelle Aktivität wird zunehmend wichtig, überwertig, verdrängt nach und nach alle anderen Interessen,
  • Kontrollverlust tritt auf- Durchbrechen aller Vorsätze, Schwanken zwischen Oberkontrolle und völlig ohne Kontrolle sexuell handeln.
  • Fortsetzung dieses Verhaltens trotz negativer Konsequenzen, ja erheblicher Eigengefährdung,
  • progressiver Verlauf.

Nur in seltenen Fällen präsentieren Patienten/Klienten sich mit der Eigendiagnose einer sexuellen Abhängigkeit. Meist wird man aus indirekten Hinweisen, gezielter Anamnese (Tab. 2) oder auch aufgrund des klinischen Eindrucks zur Vermutung einer sexuellen Abhängigkeit kommen.

Wann also muß ich als Therapeut besonders dran denken?

Eine erhöhte Häufigkeit sexueller Abhängigkeit ist gegeben bei:

  • alkohol- oder medikamentenabhängigen Menschen,
  • frühkindlichem Mißbrauch,
  • Eßstörungen,
  • krisenhaft-suizidalem Zusammenbruch.

Sonstige Hinweise können sein:

  • Verluste von Arbeitsstellen,
  • Schulden,
  • Pairing/Durchbrechen der Fastenregeln einer Klinik, Sexualisierung jeglichen Kontakts,
  • abgebrochene stationäre Therapien (Rausschmiß!),
  • akute Partnerschaftskrise,
  • AIDS,
  • Hinweise von Angehörigen,
  • während der Therapie Unfàhigkeit sich an irgendwelche Einzelheiten der Biographie vor dem 10. Lebensjahr zu erinnern.

Diagnostische Instrumente mit klinischer Validität hat vor allem Carnes in den USA entwickelt (4-6). Sein Selbstbeurteilungsfragebogen umfaßt zur Zeit etwa 170 verschiedene Items im Zusammenhang mit Sexualität. Die jüngst hinzugefügten betreffen dabei vor allem die sexuell süchtigen Verhaltensweisen im Zusammenhang mit Computern, CD-ROM, Internet usw., die sich zu einem enorm umfangreichen und auch profitablen Bereich sexueller Schaulust entwickelt haben. Durch differenzierte statistische Verfahren konnte er 10 Verhaltenstypen herausarbeiten, (die in Tab. 3) aufgeführt sind. Diese 10, in Tab. 3 genannten Kategorien sind für die Beurteilung, die Behandlung und den Verlauf, ja auch für die Vorhersagbarkeit anderer Störungsmuster von erheblicher Bedeutung. Dies im einzelnen auszuführen sprengt jedoch den Rahmen dieses Kapitels. Wir verweisen daher hier auf das Buch von Carnes: Wenn Sex zur Sucht wird (5).

DSM IV und ICD 10. Sexuelle Störungen sind in den beiden großen diagnostischen Klassifikationen erfaßt. Sie beinhalten sexuelle Funktionsstörungen und sexuelle Deviationen = Paraphilien. Sexuelle Funktionsstörungen verhindern die von der betroffenen Person gewünschte sexuelle Beziehung und/oder Befriedigung und verursachen subjektives Leid und Schwierigkeiten im Kontakt mit anderen Menschen. Zugrunde liegen Störungen des sexuellen Verlangens oder psychophysiologische Veränderungen, die die sexuelle Reaktion oder Aktion beeinträchtigen. Dazu gehören Mangel oder Verlust von sexuellem Verlangen, Versagen genitaler Reaktionen, Orgasmusstörungen, aber auch nicht näher bezeichnete sexuelle Funktionsstörungen. Die Paraphilie ist am besten als sexueller Drang nach einem unüblichen Sexualobjekt oder nach unüblicher sexueller Stimulierung zu beschreiben. Hierzu gehören das Entblößen der eigenen Geschlechtsteile (Exhibitionismus), der Gebrauch lebloser Objekte, z. B. weiblicher Unterwäsche (Fetischismus), das Berühren und Sichreiben an Personen, die damit nicht einverstanden sind (Frotteurismus) sowie sexueller Sadismus und Masochismus. Für den Leidensdruck, die soziale “Sprengwirkung” und auch für die Beurteilung einer Behandlungsnotwendigkeit gilt nach Kokott (19): “Eine Indikation zur Therapie ist eher nicht gegeben, wenn das deviante Verhalten in Übereinstimmung der Beteiligten geschieht, keinem Dritten schadet und nicht Ausdruck einer sexuellen Impulshandlung oder sexuellen Süchtigkeit ist, unter der der Betroffene leidet”.

Sexuelle Abhängigkeit ist zur Zeit weder im ICD 10 noch im DSM IV als eigenständige Erkrankung definiert. Als diagnostische Kategorien kommen daher verschiedene Möglichkeiten in Betracht:

  • sexuelle Störung NNB (F 65.9),
  • Paraphilien (NNB),
  • Störung der Impulskontrolle, NNB, oft im Zusammenhang mit:
  • posttraumatischer Belastungsstörung,
  • Störung durch psychotrope Substanzen (ca. 60% der SA [F lx.21),
  • Anpassungsstörung (mit Beeinträchtigung der beruflichen und sozialen Tätigkeiten).

Soweit als möglich sollten in der gewählten diagnostische Kategorie die auffälligen sexuellen Verhaltensweisen näher beschrieben werden, also die individuelle Ausprägung, die Dauer des Verhaltens, der Anlag der Diagnose oder Therapie. Hinzugefügt werden z. B.:

  • süchtiges Ausagieren,
  • Ausbeuten,
  • Verquickung mit Romanzen,
  • Ausübung von Zwang,
  • beruflich unethisches Verhalten z. B. im Arzt-Patient oder Priester-Gemeindemitglied-Kontakt.

Meist wird von vornherein zwischen Sexual addiction (Sexabhängigkeit) und Sexual offense (sexueller Straftat) unterschieden, obwohl die Kategorie einer sexuellen Straftat ja eher juristisch, denn medizinisch ist und es ähnlich wie bei einer Trunkenheitsfahrt – bei enorm hoher Dunkelziffer z. T. vom Zufall abhängt, ob eine Person erwischt/angezeigt/überführt wird.

Weiterhin sollten unabhängig von der oben genannten Einstufung vor Aufnahme einer Behandlung folgende Punkte sorgfältig erfragt werden:

  • Ausmaß an aggressiven Äußerungen und Handlungen,
  • sonstige psychopathologische Besonderheiten (Psychose, organische Hirnkrankheit, aktiver Suchtmittelgebrauch, z. B. Drogen wie Cocain).

Sex als Sucht, Sexsucht und andere Süchte

Der bekannte Spruch “Die Sünden von früher sind die Süchte von heute” läßt sich entschieden auch auf süchtige Verhaltensweisen im Bereich der Sexualität anwenden. Dies heißt aber nicht, daß deswegen – auch in Fachkreisen – Sexsucht als solche grundsätzlich akzeptiert wird. Allerdings kommen Fachleute speziell aus dem Bereich der Abhängigkeitstherapie nicht umhin, sich dem zunehmend auftauchenden Phänomen zu stellen. Auch das Thema des sexuellen Mißbrauchs, das in den letzten Jahren auch in den deutschsprachigen Ländern oft behandelt wurde, weist enge Verwandtschaften zwischen Süchten im allgemeinen und Sexsucht im besonderen auf.

Bereits 1939 schrieb Wilson (30) im Blauen Buch der Alkoholiker wichtiges über Sex und Süchte: ,Hier ein Wort zu Thema Sexualität: Viele von uns mußten hier einiges in Ordnung bringen. Vor allem versuchten wir, diese Frage vernünftig anzugehen und nicht in Extreme zu verfallen … Jeder von uns hat Sexualprobleme. Das ist menschlich. Was können wir in dieser Sache tun? Wir betrachten unser eigenes Verhalten der vergangenen Jahre… Wir schrieben alles auf, um darüber nachzudenken. Auf diese Weise trachteten wir, ein gesundes und normales Ideal für unser zukünftiges Sexualleben zu formen.”

So ist also bereits an der Entstehungsgeschichte der Anonymen Alkoholiker (AA) erkennbar, daß die alleinige Anwendung der 12 Schritte zum Alkohol unter Ausklammerung der Sexualität für viele nicht praktikabel war. Diese mußten eben auch ihre jeweiligen sexuellen Verhaltensweisen in das Programm mit einbeziehen.

Die Diskussion ist in etwa die gleiche bei allen nicht stoffgebundenen Abhängigkeitsformen (Spielen, Arbeiten, Essen oder Kaufen). Es gibt keine klar definierbare Grenze zwischen normal und süchtig, spezielle Persönlichkeiten lassen sich ebensowenig finden, wie früher die Alkoholikerpersönlichkeit. Das Kontinuum kann allenfalls sprachlich beschrieben werden als Obergang vom ,normalen” Verhalten, häufigerem/stärker ausgeprägtem Verhalten, Problemverhalten, exzessivem Verhalten.

Der “Pionier der Sexsucht” in Amerika definiert diese als “pathologische Beziehung zu einem stimmungsverändernden Verhalten” (6). Selbst die Unterscheidung in stoffgebundene Abhängigkeiten mit klarer biochemischer Wirkung einerseits und nichtstoffgebundene Abhängigkeiten ohne eine solche biochemische Wirkung andererseits läßt sich aus heutiger Sicht kaum aufrechterhalten. Zu vielfältig sind die Hinweise der Hirnforscher auf Endorphine, Entaktogene und weitere hirneigene Botenstoffe, die durch verschiedene Trigger ausgelöst werden. Sexuelles Erleben und Verhalten vermag wahrscheinlich sowohl die anregenden dopaminergen wie die eher beruhigenden GABAergen und auch die serotonergen Transmittersysteme zu beeinflussen (25). Konsequenterweise beschreiben die Menschen, die sowohl alkohol- wie auch sexabhängig sind, ihr Erleben z. B. der Euphorie als in beiden Fällen sehr ähnlich. Die wissenschaftliche Diskussion über das gültige Verständnis süchtiger sexueller Verhaltensweisen ist vehement und offen. Eine ausführliche Darstellung findet sich bei Irons u. Schneider (15).

Fest steht aus klinischer Sicht, daß es hier zwischen den verschiedenen Süchten deutliche Parallelen, Überschneidungen, Wechsel und Verstärkungen gibt. Im internen Prozeß des einzelnen geht es um eine möglichst häufige Wiederholung belohnender Aktivitäten oder um das Vermeiden innerer Spannungs-, Unlustzustände. Bereits oben genannt wurden die zentralen Bestandteile Kontrollverlust, Fortsetzung des Verhaltens trotz negativer Konsequenzen, wie auch immer geartete Dosissteigerung gerung und zwanghaftes Wiederholen des Verhaltens/ der Substanzeinnahme, die sich ja auf sehr verschiedene Suchtformen anwenden lassen. Die Kombination und der Wechsel zwischen verschiedenen Suchtmitteln und Suchtverhaltensweisen dienen der Intensivierung oder Abwechslung des Erlebens. Breiten Bevölkerungsschichten ist die anregend enthemmende Wirkung von Alkohol vertraut, viele setzen sie auch ein, “um im Bett mehr Spaß zu haben”. Sexsüchtige verwenden stimmungsverändernde Mittel u. a. um z. T. sehr ritualisierte Szenen aus Büchern, Filmen, der Phantasie oder früher Erlebtes darzustellen, um in eine bestimmte Stimmung zu kommen, um Ängste oder Hemmungen abzubauen, um eine sexuelle Dysfunktion zu überspielen, um sexuelle Agressionen stärker auszuleben, um einen Partner gefügig zu machen, sehr häufig auch um sich emotional so zu betäuben ( sich zuzumachen), daß der sexuelle Akt oder bestimmte abweichende sexuelle Verhaltensweisen mitgemacht werden können. Verschiedene Untersuchungen fanden das Nebeneinander einzelner Suchtformen: Nach Carnes (4-6) hatten die von ihm befragten sexsüchtigen Männer und Frauen eine zusätzlich stoffgebundene Suchtmittelabhängigkeit in 42%, Eßstörungen in 38%, Arbeitssucht in 28% und Spielsucht in 5% der Fälle. In der Studie von Schneider (28) waren 39% der Fälle stoffgebundene abhängige, 32% der Fälle hatten eine Eßstörung und 5% der Fälle sahen sich als spielsüchtig. In der Gruppe der von Irons (14) behandelten Ärzte, die aufgrund sexueller Übergriffe angezeigt worden waren, hatten diejenigen mit süchtigen Verhaltensweisen im Bereich der Sexualität fast doppelt so häufig eine chemische Abhängigkeit (38%) wie diejenigen ohne Sexsucht (21%). Es gibt also eine beträchtliche Komorbidität. Wären die Suchtanamnesen gründlicher, so würde sich auch bei denen, die primär wegen einer Alkohol- oder Medikamentenabhängigkeit behandelt werden, häufig Störungen des sexuellen Verhaltens ergeben. Einschlägige Untersuchungen in Suchtkliniken an primär von stoffgebundener Abhängigkeit Betroffenen zeigten, daß etwa 1/3 neben der primären Sucht auch sexuell zwanghaftes süchtiges Verhalten aufwiesen (11).

Dies ist keinesfalls nur von theoretischem Interesse, sondern auch klinisch insofern bedeutsam, als beim gleichzeitigen Vorkommen von Alkohol- und Sexsucht die Behandlung nur einer Sucht zu fortgesetztem und häufigerem Rückfall führt.

Beginn und Verlauf süchtiger Verhaltensweisen der Sexualität

In vielen Interviews mit Hunderten von Betroffenen kristallisierte sich bzgl. des Beginns dessen, was sich im Erwachsenenleben als Sexsucht äußert, das 10.-12. Lebensjahr heraus (4). Die Anfänge sind durch einen außergewöhnlich intensiven, fast prägenden Eindruck selbst erlebter oder beobachteter sexueller Aktivität in der frühen Adoleszenz charakterisiert, in Einzelfällen auch danach. Jahrzehnte später wissen die Menschen noch genau, wie diese erste sexuelle Erfahrung war. Die Begeisterung beim Erzählen weist durchaus Ähnlichkeiten zu den Berichten von Drogenabhängigen über ihren ersten ,Kick” auf. An irgendeinem Punkt wird Sex dann ,zum Mittel erster Wahl” oder wie es ein Sexsüchtiger beschrieb ,,Frauen waren immer meine Lieblingsdroge”. Ein Verhaltenszyklus hat mit Macht angefangen, der sich immer wiederholen wird und lange Zeit selbst verstärkt, wobei die positive Verstärkung meist in der Kombination von einem angenehmen Erlebnis und dem kurzfristigen “Nicht mehr spüren müssen” unangenehmer, schmerzhafter Gefühle besteht.

Mit diesem etablierten Verhaltenszyklus, manche Patienten sprechen auch von Ritualen, erreicht die Krankheit in ihrem Verlauf zunächst eine Plateauphase. Der süchtige Mechanismus ist quasi selbstunterhaltend, repetitiv gibt es eine dauernde innere Beschäftigung mit Sex, ritualisierte Verhaltensweisen, sexuelles Ausagieren, eine sich anschließende Verzweiflung, Scham und Schuld, die erst wieder mit Beginn eines neuen Durchgangs Erleichterung erfahren. Nach und nach kommt es häufig zu einer Eskalation (die alten Reize sind “stumpf” geworden = Toleranzentwicklung), einer größeren Häufigkeit oder Intensität sexueller Handlungen, einem höheren Risiko und zu einem ausgeprägten Kontrollverlust. Phasenweise kann es zu einem symptomfreien Intervall kommen, in dem Betroffene ähnlich wie beim Alkohol sich und anderen beweisen, daß es so schlimm nicht sein kann, da sie ja noch aufhören können. Übersehen wird dabei freilich, daß an Stelle des sexuellen Ausagierens oft chemische Suchtmittel verstärkt genommen werden.

In der akuten Phase steht die Suche nach Sex im Mittelpunkt des Handelns, Phantasierens und Wünschens Betroffener. Die Konsequenzen insbesondere im Bereich von Beziehungen werden stärker, stellenweise kommt es zur offenen Konfrontation, mit der Chance einer Veränderung, d. h. dem Aufsuchen von Hilfe. Nicht wenige Sexsüchtige verbleiben jedoch in ihrer Sucht, allenfalls noch begrenzt durch äußere Faktoren wie Geld, Zeit oder körperliche Gesundheit.

Körperliche Auswirkungen

Sexsüchtige können sich mit den verschiedensten Beschwerden beim Arzt vorstellen:

  • Verletzungen an den Geschlechsteilen aufgrund eigener oder fremder sexueller Einwirkung,
  • sexuell übertragbare Krankheiten wie Hepatitis, HIVInfektion, Herpes simplexe Gonorrhö, Syphilis, Chlamydien,
  • allgemeine Verletzungen durch riskantes Sexualverhalten in gefährlicher ungewöhnlicher Umgebung
  • (z. B. fahrendes Auto), unnötige chirurgische Eingriffe wie z. B. Brustvergrößerungen, Fettabsaugungen,
  • Einnahme von angeblich wirksamen Aphrodisiaka z. B. Yohimbin, Papaverin.

Aufgrund der diversen körperlichen Auswirkungen insbesondere wenn sie ernster Natur sind – kann es übrigens sekundär zu depressiven Störungen, posttraumatischen Belastungsstörungen, dissoziativen Störungen und Angststörungen kommen.

Sehr häufig wird zur Enthemmung oder Steigerung des sexuellen Erlebens Alkohol, Haschisch, Cocain u. a. eingenommen. Auch wenn dies natürlich nicht in jedem Fall problematisch ist, über größere Gruppen gesehen führt es zu diversen Problemen wie erhöhte Gefährdung der Ausbildung einer stoffgebundenen Abhängigkeit, verringerte Diskriminationsfàhigkeit (wann, wo, mit wem) und oft auch im Rausch eine Vernachlässigung eigener Infektionsprophylaxe (1). Für Behandler oder Berater von Cocainusern ist die statistisch belegte hohe Konkordanz bedeutsam, also das häufige Nebeneinander von Cocain- und Sexsucht. Hier sollten die Fragen nach sexuellen Praktiken und potentieller Eigengefàhrdung durch AIDS zu einem frühen Zeitpunkt gestellt werden.

Sexsüchtige berichten aber auch völlig unabhängig von jeglicher Drogeneinnahme, daß nach Beginn des Verhaltenskreislaufs, des Ritus “wieder auf die Jagd nach dem sexuellen Reiz zu gehen” für vernunftgebundene Überlegungen nach Infektionschutz keinerlei Platz ist. Solche nüchternen Gedanken und begleitenden Schamgefühle sowie Ängste kommen erst wieder auf, nachdem der sexuelle Kontakt vorbei ist.

Auswirkungen auf die Familie

Süchtige Verhaltensweisen in der Sexualität betreffen in ihren Auswirkungen die gesamte Familie, genauso wie es auch andere Formen der Sucht tun. Am Anfang der Krankheit scheint die Familie (anders als bei stoffgebundener Abhängigkeit) etwas weniger chaotisch und fragmentiert zu sein, jedoch mit zunehmender Symptomatik, zunehmendem Streß und vor allem zunehmenden Konsequenzen der Sexsucht, ähneln sich die Reaktionsmuster der Angehörigen stark. Ober die Coabhängkeit, erwachsene Kinder von Alkoholikern und die alkoholkranke Familie ist bereits viel geschrieben worden (3, 7, 23). Die Auswirkungen des Zusammenlebens mit Abhängigen sind letztlich zu vielfältig, um vollständig dargestellt zu werden. Irons (13, 14) wies in jüngster Zeit darauf hin, daß bei den Angehörigen die Überkompensation der erlebten Scham, Gewalt, Hoffnungslosigkeit u. a. auch in völlig übertriebenem Engagement in religiösen Aktivitäten, Gemeindeaktivitäten oder als Elternbeiräte vorkomme.

Sowohl die Abhängigkeit wie die Koabhängigkeit haben ihre Wurzeln in dysfunktionalen Familiensysstemen, in denen die Bedürfnisse des Kindes oft massiv vernachlässigt werden und sich deutlich häufiger als in der Allgemeinbevölkerung Mißbrauch ereignet. in der Befragung von Carnes (6) von genesenden Sexsüchtigen gaben 97% emotionalen, 82% sexuellen und 72% körperlichen Mißbrauch im Elternhaus an. Mißbrauch und Sexualität werden auf diesem Erfahrungshintergrund lange, leider oft lebenslänglich, mit Liebe und Nähe verwechselt. Viele Sexsüchtige charakterisieren den Beziehungsstil in ihrem Elternhaus als streng und emotional abgetrennt, wie z. B. in religiös fundamentalistischen Familien. Hier herrschten strenge, inflexible Grundsätze und die emotionale Geborgenheit kam oft völlig zu kurz. Sexsüchtige haben überdies in ihren Herkunftsfamilien eine über mehrere Generationen gehende Kette von Suchtverhalten (Alkohol, Essen, Spielen, Sex).

Auffällig ist, daß die Partner von Sexsüchtigen einen Familienhintergrund haben, der dem der Sexsüchtigen sehr ähnlich ist. Auch hier herrschen strenge, emotional vernachlässigende Erziehungsstile, auch hier gibt es viele Familienangehörige mit einem Suchtproblem, auch hier war sexuelle Übergriffigkeit, Mißbrauch auch der Kinder häufig. Es ist daher kein Wunder, daß Kinder aus solchen Familien internalisiert haben, Sex ist das wichtigste Zeichen von Liebe, ja Liebe wird erst durch Sex “verdient”. Als Erwachsene vermögen sie dann nicht, ihren Partnern adäquate Grenzen zu setzen, sich in ihren eigenen Interessen abzugrenzen, nein zu sagen. Sich einen sexsüchtigen Partner herauszusuchen ist nicht einfach Pech, ein Zufall o. à. Es ist die unbewußt ,,stimmige” Wahl eines Menschen, mit dem die Beziehungsqualitäten der eigenen Kindheit, in der dieser oft sehr gelitten hat, wieder erlebt werden können. Ein Beispiel für so ein unbewußt kongruentes Zusammenspiel könnte ein Paar sein, bei dem er seine Sexsucht mit Prostituierten auslebt und sie, die als Kind sexuell mißbraucht wurde, in ihrem Desinteresse an Sex in Ruhe gelassen wird. Wie Schneider (28) in ihrer Arbeit mit vielen Partnerinnen von Sexsüchtigen herausgefunden hat, sind diese Koabhängigen bereit alles zu geben, alles mitzumachen, um eine Beziehung aufrechtzuerhalten, um nicht diese schreckliche Angst allein gelassen zu werden erleben zu müssen. So früh ist ihnen auch die Selbstabwetung beigebracht worden, daß sie sich für alles verantwortlich fühlen, alle Schuld für das entgleiste Verhalten des Partners auf sich nehmen. Dadurch wird in einer weiteren Generation die Dysfunktionalität gelebt, wieder kommen Kinder zu kurz, wieder werden Opfer zu Tätern, erzeugen weitere Opfer, die später ihrerseits wieder… usw. Ein Kind wird vielleicht zum Familienhelden, als Arzt, Therapeut, Lehrer mit der Superleistung und Superverantwortung für andere und tief versteckter depressiver Verbitterung “ich komme zu kurz”, ein Kind entwickelt vielleicht eine Eßstörung, ein anderes träumt vom schnellen Geld, spekuliert gewagt und endet irgendwann im finanziellen Desaster.

Wie auch bei allen anderen Abhängigkeiten sind folgende Stationen zur Genesung dafür verantwortlich, daß den Beteiligten wieder eine Wahl ermöglicht wird, und sie verhindern, daß die nächste Generation im gleichen Maß geschädigt wird:

  • Einsicht in diesen Kreislauf der Sucht,
  • die Betroffenheit aller Familienangehörigen,
  • Aufklärung über die Hintergründe der Sucht,
  • Auswege aus dem Vertuschen und Verleugnen,
  • Erlernen von selbstschützendem Verhalten
  • schrittweises Zulassen verborgener Gefühle in einem sicheren Raum,
  • Teilnahme an den entsprechenden 12-Schritte-Gruppen im Rahmen der Sexsucht (SA, SLAA) und deren Angehörigengruppen (Adressen in Tab. 7).

Sexuelle Erfahrung und Verwundung

Während der männlichen Separation und Individuation kann eine spezielle Verwundbarkeit entstehen (29). Ist eine solche Wunde in der frühen Kindheit einmal erlitten, führt sie eine über Jahre gehende Existenz und kann sich später als persönliche Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen, als Ambivalenz in nahen Beziehungen, als multiple Schwierigkeiten mit Beziehungen zu Frauen ausdrücken.

Wir alle erleben ja bestimmte zentrale Lebensereignisse, manche davon als Gipfelerfahrungen geschätzt, andere dagegen als Erfahrungen im Abgrund vorwiegend leidvoll. Einige dieser Erfahrungen sind sexueller Natur und diese haben einen nachhaltigen Effekt auf unsere spätere Fähigkeit, lntimität zu erleben und Sexualität zu gestalten. Beispiele für solche Erfahrungen sind erste sexuelle Erkundigungen in Form von ,,Doktorspielen”, unsere erste Selbstbefriedigung, unsere erste Begegnung mit Pornographie, unser erstes bewußtes Wahrnehmen eigener sexueller Wünsche, die Zeiten, als uns die Umarmungen von Mutter oder Vater unangenehm wurden, unsere ersten Liebeserlebnisse, das erste Mal, als wir die Geschlechtsteile eines anderen berührt haben, die ersten Enttäuschungen sich sexuell ausgeliefert, benutzt und verlassen zu fühlen auch jemanden anderen heiß begehrt zu haben, sexuell genossen zu haben und dann keinerlei Interesse an dieser Person mehr zu spüren. Einige dieser Erlebnisse verknüpfen wir vielleicht bis heute mit Scham, mit Schuld oder auch mit gewaltigem Groll und Ärger. An andere Erfahrungen erinnern wir uns dagegen mit Freude, innerer Wärme, tiefer Dankbarkeit. Diese Erlebnisse beeinflussen unser Denken und Fühlen im Zusammenhang mit jeglicher Sexualität sehr stark. Im ungünstigen Fall tragen wir sie als tiefe Wunden, die jede Beziehung, speziell jede enge Beziehung beeinflussen und formen. Es gehört zur Tragik des Lebens, daß wir durch diese sexuellen Wunden uns oftmals im Sinne einer ,self fulfilling prophecy” angestrebten guten Erfahrungen versagen und jenen schlechten öffnen, die wir so gerne hinter uns ließen. Gerade dort wo wir am meisten lieben, erleben wir in uns eine Zerrissenheit, eine Ambivalenz, die uns quält und mit der wir vielleicht auch den Partner quälen durch Eifersucht, emotionale Erstarrung, mangelnde Hingabe oder Erlebnisfähigkeit. Gerade im Bereich der Sexualität kommt es auch zu massivsten Spaltungsphänomenen zwischen hell und dunkel, angepaßt erwünschten und geheim ausgelebten Aspekten. Beispielhaft ehrlich und auch erschreckend ist der autobiographische Bericht einer katholischen Theologin, die später als Prostituierte und Domina arbeitete (8).

Es gibt fliegende Obergänge zwischen den Erfahrungen sexuell Abhängiger und anderer Menschen. Wie sonst erklärt sich die Faszination an Filmen wie ,,Ein unmoralisches Angebot” oder ,Eine verhängnisvolle Affäre”. Auch zeigen sich ja gerade bei denen, die alle Formen sexueller Freiheit als ,unmoralisch” anprangern und verfolgen, in der Psychotherapie oder manchmal auch im wirklichen Leben (man denke nur an den Fernsehprediger Jimmy Swaggert, der im Motel mit einer Prostituierten ertappt wurde), daß hinter dem projizierten Bösen die eigenen Wünsche und Verwundungen mächtig hervor scheinen. Gute ,Wundpflege” bedeutet dann in einer emotional sicheren Umgebung, die Verletzungen und Erfahrungen der Vergangenheit zu erzählen, die Gefühle, insbesondere Schmerz, Haß, Wut, wieder auszudrücken, ohne dafür bedroht, bestraft gequält zu werden. Nach Carnes (6) entdecken Sexabhängige dabei häufig folgende 4 Grundüberzeugungen:

  • Selbstbild: Ich vom Kern her eine schlechte Person.
  • Beziehung. Niemand liebt mich, wie ich wirklich bin.
  • Bedürfnisse: Meine Bedürfnisse werden nie erfüllt, wenn ich mich auf andere verlasse.
  • Sexualität.- Sex ist mein wichtigstes Bedürfnis.

Die sexuelle psychische Verwundung ist auch in den Märchen und Mythen ein geläufiges Motiv. Sehr eindrücklich begegnet sie uns im Mythos von Parsifals Suche nach dem heiligen Gral. Eine zentrale Figur dieses Gralsmythos ist der Fischer-König der verwundet ist krank ist, ja stöhnt in seinem Schmerz. Die Wunde liegt am Oberschenkel, also sehr nahe an den Geschlechtsteilen. In einer sehr lesenswerten Deutung meint der Jungianer Johnsen (16): “Die Wunde am Oberschenkel bedeutet, daß ein Mann sexuell verwundet wurde… Aber es ist nicht ganz richtig, einfach festzustellen, es sei eine sexuelle Wunde. Vielmehr ist es eine Verwundung seiner Männlichkeit, seiner schöpferischen Fähigkeiten.”

Unterschiedliche Muster süchtigen sexuellen Verhaltens bei Mann und Frau und bei sexuellen Straftätern

Carnes (5) fand bei einer Befragung von ca. 1000 Patienten (81 % männlich, 19% weiblich) folgende unterschiedliche Muster heraus (Tab. 3):

  • Phantasiesex,
  • sexuelle Verführerrolle,
  • anonymer Sex,
  • Sex gegen Geld,
  • mit Sex handeln,
  • voyeuristischer Sex,
  • exhibitionistischer Sex,
  • zudringlicher Sex,
  • schmerzhafter Sex,
  • Sex mit Objekten.

Nicht alle diese Muster traten bei Männern und Frauen auf, sondern es gab vielmehr wichtige geschlechtstypische Unterscheidungsmerkmale. So tendieren sexuell süchtige Männer dazu Häufigkeit und Intensität solchen sexuellen Verhaltens exzessiv zu steigern, das ihre Partnerinnen zum Objekt macht und wenig emotionales Engagement fordert: voyeuristischer Sex, Sex gegen Geld, anonymer Sex und zudringlich/ausbeutender Sex. Frauen dagegen steigerten Intensität und Häufigkeit solchen sexuellen Verhaltens, das mit einem Machtgefälle verbunden ist, entweder als Person mit besonderer Macht oder als Opfer: Phantasiesex, sexuelle Verführerinnenrolle, Sex als Ware, schmerzhafter Sex. Frauen setzen so Sex ein, um Macht, Kontrolle und Aufmerksamkeit zu bekommen. So scheint für jedes Geschlecht spezifisch die schon vorhandene sexuelle Verwundung durch die Wahl des sexuellen Musters noch intensiviert zu werden (4-6).

Sexuelle Straftaten beschreiben zunächst eher juristische, als medizinische Sachverhalte. Hier geht es um sexuelles Verhalten, das andere verletzt oder sonst traumatisiert. Der sexuelle Täter mißbraucht die ihm zur Verfügung stehende Macht, Einflußnahme, Geld oder Abhängigkeitsverhältnisse, um seine sexuellen Wünsche zu erfüllen. Trotzdem sind Sexsüchtige und sexuelle Straftäter verschiedene Bevölkerungsgruppen. Das bedeutet, auch wenn sexuelle Straftaten wie Vergewaltigung oder Kindesmißbrauch von Sexsüchtigen begangen werden können, so sind viele sexuelle Straftäter keineswegs sexsüchtig. In einer sehr gründlichen Studie von Blanchard (2) an 109 verurteilten sexuellen Straftätern wiesen lediglich 55% Zeichen einer sexuellen Sucht auf. Von 63 Personen, die wegen Kindesmißbrauchs verurteilt waren, hatten 71% deutliche Zeichen der sexuellen Abhängigkeit gegenüber nur 39% der verurteilten Vergewaltiger. Insgesamt liegen bei sexuellen Straftätern neben der Sexsucht andere z. T. häufigere Störungen im Bereich der Persönlichkeitsstörungen vor, wie antisoziale, schizotypische oder schwere narzißtische Persönlichkeitsstörungen. Auch das emotionale Erleben war bei beiden Gruppen unterschiedlich:

  • bei den sexsüchtigen Gefangenen eher traurig, entfremdet, subjektiv wertlos mit ständigem Bedürfnis nach Anerkennung und Bestätigung,
  • bei den nichtsexsüchtigen Gefangenen dagegen mehr direkte Aggression, offene Feindseligkeit insbesondere gegenüber Frauen.

Sexsüchtige Straftäter haben im Vergleich auch eine höhere Zahl von Verstößen, zeigen dafür aber weniger Gewalt. Sie zeigen viel mehr ein ritualisiertes Vorgehen und weniger ein impulsiv durchbrechendes Verhalten, sie erleben mehr Scham über ihr straffälliges sexuelles Verhalten, benutzen häufiger pornographische Erzeugnisse und haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, als Kind sexuell mißbraucht worden zu sein.

Sexuelle Übergriffe von Ärzten, Therapeuten und Geistlichen

In den letzten Jahren haben wir in der Flach- sowie in der allgemeinen Öffentlichkeit eine zunehmende Diskussion und Darstellung des sexuellen Mißbrauchs, der sexuellen Ausbeutung durch Obergriffe von Ärzten, Therapeuten und Geistlichen. Das Thema ist in den USA zwar breiter und vor allem juristisch offensiver angegangen worden als in den deutschsprachigen Ländern, aber auch hier sind erste Schritte getan, z. B. durch die Arbeit von Fischer u. Fischer im Kölner Institut für Psychotraumatologie, durch die Freiburger Sozialtherapiewoche (12), durch ein Lehrbuch der Psychotherapie (26) oder Darstellungen im Deutschen Ärzteblatt (22). Eine ausführliche, vor allem für Therapeuten lesenswerte Darstellung zum Thema findet sich bei Rutter (27). Außerdem erinnern sich aufmerksame Kino- und Fernsehzuschauer sicher an mehrere Spiel-Dokumentarfilme über sexuellen Mißbrauch z. B. in einem katholischen Waisenhaus oder in einer staatlichen Erziehungsanstalt oder in der Arbeitswelt.

Sexuelle Ausbeutung ist durch den Mißbrauch von Vertrauen in einer professionellen Beziehung zum Zwecke des Erhaltens persönlicher sexueller Vorteile gekennzeichnet. Beispiele hierzu finden sich auch in Deutschland vielfältig unter Ärzten, Psychotherapeuten, beratend Tätigen, Lehrern, Anwälten, Lehrern und Geistlichen aller Konfessionen. Ohne Intervention und Behandlung setzt sich dieses unethische Verhalten oft über Jahre und Jahrzehnte fort, so daß Dutzende, in einigen Familien Hunderte von Mißbrauchsopfern betroffen sind. In den USA unterscheidet man berufliches sexuelles Fehlverhalten von beruflichen sexuelles Straftaten. Im ersten Fall geht es um die offene oder versteckte Äußerung erotischer oder romantischer Gesten/Gefühle, die als sexuell zu interpretieren sind, gegenüber einem Klienten/Patienten. Bei der sexuelles Straftat ist die Schwelle zur körperlichen Berührung überschritten: nichttherapeutische Berührung aller mit Erotik oder Sexualität verknüpften Körperteile, Intimverkehr u. a. Nachweislich seit dem Eid des Hippokrates sind diese Gefährdungen therapeutisch Tätiger bekannt und juristische sowie ethische Normen errichtet worden, um Kranke, Hilfesuchende und andere in Not zu schützen. Der Verständnisschlüssel für die meisten Szenarien beruflicher sexueller Ausbeutung (Tab. 4) ist: Es geht nicht primär um Sexualität, sondern um Machtmißbrauch!

Insofern die Aufmerksamkeit sich aus einer anfänglich einseitig feministischen Perspektive zu mehr neutraler Betrachtung erweitert, finden sich zunehmend auch Frauen, die beruflichen sexuellen Mißbrauch betreiben. Nach wie vor überwiegt jedoch bei den Tätern der Männeranteil stark. Die mannigfachen intrapsychischen Prozesse von Tätern und Opfern sowie die destruktiven Auswirkungen auf die Familienangehörigen sind eindrucksvoll in der Novelle ,Die Marquise von 0″, von Heinrich von Kleist (17) geschildert. Sie beschreibt immerhin schon im Jahr 1812, daß aufgrund der starken, ja überstarken Idealisierung der Retter und Helfer deren moralisches Fehlverhalten besonders schwerwiegend ist und kaum vergeben wird. Bezeichnenderweise läßt Kleist die Novelle mit dem Satz enden: “Er würde ihr damals nicht wie ein Teufel erschienen sein, wenn er ihr nicht, bei seiner ersten Erscheinung, wie ein Engel vorgekommen wäre.”

Über die tatsächliche Verbreitung beruflichen Mißbrauchs in Deutschland liegen uns keine Zahlen vor. In den USA hat die Arbeitsgruppe um Gartrell (9a) versucht, mit anonymen Fragebogen die Inzidenz sexuellen Kontakts zu Klienten/Patienten zu erheben; das Ergebnis waren erstaunliche 6-9%. Die Schwierigkeiten in der Interpretation dieser Zahlen liegen darin, wo die Grenze zwischen erlaubter und unerlaubter = sanktionierter Berührung definiert wird. Begutachtet man die sexueller Übergriffe Beschuldigten, wie der Coautor dieses Beitrags es in den vergangenen Jahren mit über 200 Ärzten, so zeigt sich in mehr als der Hälfte aller Fälle eine klare sexuelle Abhängigkeit. Nebenbefundlich ergab sich außerdem bei 1/3 der untersuchten Kollegen eine stoffgebundene Abhängigkeit, die oft bis zur Begutachtung keinem aufgefallen war (14). Schwere Persönlichkeitsstörungen im Sinne einer antisozialen oder paranoiden Persönlichkeitsstörung wurden nicht festgestellt, wohl aber narzißtische sowie dependente Persönlichkeitsstörungen.

Begutachtung. Eine Begutachtung von Personen, denen eine sexuelle Fehlhandlung vorgeworfen wird, muß sich zunächst auf eine möglichst genaue, schriftliche Darstellung der Verhaltensweisen, die inkriminiert werden, stützen sowie auf wichtige Ereignisse im Vorfeld. In der Begutachtungssituation, die vorzugsweise stationär erfolgen sollte, bietet sich als Kurztest der Screeningtest für sexuelle Abhängigkeit nach Carnes (Tab. 5) an. Dieser Test umfaßt 25 Fragen. Die positive Antwort auf 13 Fragen läßt mit hoher Wahrscheinlichkeit auf sexuelle Abhängigkeit schließen. Der Screeningtest ist nur eingeschränkt nützlich bei homosexuellen Männern und auch für Frauen wurde er nicht ausdrücklich validiert. Eine ausführliche Version des Tests umfaßt zur Zeit 184 Fragen, die jeden Bereich der Sexualität berücksichtigen. Neben diesen Tests gibt es die in Tab. 2 aufgeführten Hinweise und Zeichen für eine sexuelle Abhängigkeit, die bei Vorliegen von 6 und mehr der aufgeführten Zeichen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist. Weil süchtiges Verhalten speziell auch im Bereich der Sexualität generationsübergreifend ist, sollte auf ein Genogramm und detaillierte Angaben zur Familienanamnese nicht verzichtet werden. Eine gründliche internistische und neurologische Untersuchung ist obligater Begutachtungsbestandteil sowie auch die Erhebung eines psychiatrischen Befunds. Weil neben den süchtigen Verhaltensweisen in der Sexualität auch häufig eine Suchtmittelabhängigkeit vorhanden ist muß auch nach dem Gebrauch/Mißbrauch von Alkohol, Medikamenten und Drogen im Detail nachgefragt werden (24). Laborchemisch muß besonders auf HIV- und Schwangerschaftstests sowie Leberenzyme geachtet werden. Psychologische Tests wie der MMPI, projektive und andere Testverfahren können darüber hinaus die diagnostische Zuordnung der aktuellen Symptomatik und Differentialdiagnose im Bereich der Persönlichkeitsstörung untermauern. Speziell für sexuell übergriffige Ärzte hat Irons (13, 14) eine Einteilung vorgeschlagen, die auch in der individuellen Psychotherapie Berücksichtigung finden könnte:

  • der naive Prinz, am Berufsanfang, mit noch nicht voll ausgebildeten und bewährten Grenzen,
  • der verwundete Krieger, der sich seinen eigenen Verwundungen und Neurosen nicht stellt, statt dessen nach und nach Trost und Entlastung bei Patientinnen sucht,
  • der dienende Märtyrer, meist in fortgeschrittener beruflicher Position, weitgehende Fixierung auf die Arbeit, stellt alles dafür zurück, zunehmender Groll auf diese Lebensführung, beginnt spezielle Ausnahmen zu machen, Selbstrechtfertigung ,irgendwann muß ich doch auch einmal etwas bekommen”,
  • der falsche Liebhaber, ein Mann voller Sehnsucht danach ,alles zu haben”, viele Frauen, Genüsse, häufig auch Alkohol / Medikamentenmißbrauch oder Sucht, begleitend häufig zusätzlich erheblich Persönlichkeitsstörung;
  • der dunkle König, hier geht es um Macht, Ausbeutung, massive Spaltung effektive Dr.-Jekyll-Mr.-Hyde-Geschichten, maximal manipulativ, o der wilde Grenzgänger, sehr starke Psychopathologie, häufig sehr irregulärer Ausbildungs- und Berufsverlauf, psychosenahe Wahrnehmungsstörungen, massiv gestörte Impulskontrolle, völlig unvorhersehbar.

Viele Fachleute durchlaufen engagiert und mit entsprechend guten Ergebnissen eine Suchttherapie und können im Anschlug auch wieder ärztlich, therapeutisch und seelsorgerisch tätig sein. So wie sich bei den suchtmittelabhängigen Ärzten Nachsorgeprogramme bestens bewährt haben (20) bewähren sich diese Programme auch in ihrer spezifischen Modifikation für sexsüchtige Ärzte. Bei der Wiedereingliederung von im Beruf sexuell übergriffigen Personen sind Verträge für die Grenzen und Bedingungen professionellen Verhaltens gut und hilfreich (13). Längst nicht alle Betroffenen haben eine Persönlichkeitsstörung, die eine Rehabilitation im helfenden Beruf unmöglich macht. Beispiele für solche Verträge enthalten Klauseln über den Besuch von Einzel-, Gruppentherapien, über den regelmäßigen Besuch von Selbsthilfegruppen, über Praxisöffnungszeiten (keine Öffnung z. B. bis 23 Uhr), über die Anwesenheit einer Praxishelferin/Krankenschwester bei allen oder einigen körperlichen Untersuchungen usw. Natürlich stellen diese Verträge, die auch die ärztlichen Aufsichtsgremien mit einschließen, bis zu einem gewissen Grad eine Bloßstellung und Bevormundung der Kollegen dar, zugleich schützen sie aber auch die Patienten.

Was bleibt in bezug auf sexuelle Obergriffe von Ärzten, Therapeuten und Geistlichen zu tun? Ähnlich wie in den USA sollten die berufständischen Gremien klarere Stellungnahmen zum ethischen Handeln in der Medizin und der Therapie erarbeiten, Maßnahmen zur Aufdeckung und Prävention sexuellen Mißbrauchs in den jeweiligen Berufsgruppen sollten diskutiert, beschlossen und umgesetzt werden. Auch in der Ausbildung an den Universitäten könnte das Thema aufgegriffen werden, um nachfolgende Generationen anders zu sozialisieren und zu informieren. Sicher kann man dabei nicht alles einfach aus Nordamerika übernehmen, so halte ich aus deutscher Sicht die Einführung einer generellen gesetzlichen Anzeigepflicht für betroffene Kollegen für falsch, ebenso auch die Erfassung aller beschuldigten Kollegen in einer nationalen Datenbank, auf die Dritte zugreifen können.

Therapie

Die erste Entscheidung am Therapiebeginn ist oft diejenige, welche der nebeneinander vorkommenden Abhängigkeiten zuerst zu behandeln ist. Aus der klinischen Erfahrung heraus sollte dies in der Regel die stoffgebundene Suchtform sein. Erst danach macht die Behandlung der süchtigen sexuellen Verhaltensweisen Sinn. Der häufigste Fehler, den leider auch Suchtfachleute begehen, ist die Annahme, mit einer gründlichen Suchtbehandlung alle Formen der Sucht therapiert zu haben. Die Praxis zeigt aber das Gegenteil: Viele Abhängige intensivieren nach einer Alkoholentwöhnungstherapie das süchtige sexuelle Verhalten. Dies führt oft, aber nicht immer, zu einem Rückfall auch in die ,nasse Phase” des Trinkens. Viele Sexsüchtige erkennen ihre sexuelle Verwundung auch erst in einer Suchttherapie z. B. wegen Alkohol oder Medikamenten.

Ob eine Behandlung nun ambulant oder stationär stattfindet, entscheidet sich an den Behandlungsmöglichkeiten. Derzeit ist das Netz ausgebildeter und erfahrener Ärzte/Therapeuten für Sexsüchtige noch ungenügend. Eine vollstationäre Behandlung ist erforderlich, wenn der Betroffene selbstdestruktiv ist, Therapiekontrakte im ambulanten Setting nicht einhalten kann, wenn eine ambulante Behandlung fehlgeschlagen ist oder auch wenn sonstige psychische Krankheiten vorliegen. Alle Behandler von Sexsüchtigen stimmen überein, daß deren erfolgreiche Behandlung über mehrere Jahre andauern und eine intensive Psychotherapie beinhalten sollte.

In Deutschland sind in der Regel längere stationäre Behandlungsmöglichkeiten im stationären psychosomatischen Bereich vorhanden, hier scheint eine stationäre Psychotherapie von Anfang an sinnvoll. Themen dieser Behandlung sind:

  • die allgemeine und spezielle sexuelle Lebens- und Familiengeschichte,
  • das sich Herantasten an den evtl. eigenen Mißbrauch,
  • das Aushalten und Annehmen von Gefühlen,
  • das Gewinnen positiver Selbsterfahrung,
  • das Gewinnen von Selbstwertgefühlen.

Es geht also sehr stark auch um das wieder eine Beziehung zu sich, zum Kern finden und aushalten und aus dieser gesünderen Beziehung zum eigenen ich dann auch eine bessere, gesündere Beziehung zu anderen leben zu können. Dies begünstigt emotional offene therago peutische Gemeinschaften und Gruppen. Erfolgreiche Zugangs- und Verarbeitungsmöglichkeiten bieten sich auch über bestimmte archetypische Muster, wie sie z. T. in analytischer orientierten Psychotherapien angesprochen werden, z. B. in dem Märchen Blaubart, der alle Frauen/weiblichen Aspekte umbringt.

Schwierig und nur individuell zu lösen ist die Frage, wie sexuell abhängige Patienten mit anderen zusammen zu behandeln sind, wo dies evtl. auch an den Reaktionen der Mitpatienten scheitert. Wenn die sexuelle Aktivität zu ausgefallen oder angstauslösend ist, kann dieses Thema ausreichend in einer Einzeltherapie behandelt werden. Bezüglich der Mitarbeiter wird man als Leitender sehr gründlich auswählen müssen, wer einem solchen Patienten gewachsen ist. Es kommt oftmals vor, daß insbesondere jüngere Therapeuten vor den nach und nach beim Patienten auftauchenden Aggressionen Angst bekommen. In diesen Fällen muß dann der Einzeltherapeut gewechselt werden. Das persönliche Einbezogen werden in eine Atmosphäre oder Verführung ist ebenfalls möglich. Hier wird dringend eine engmaschige Supervision empfohlen.

In den USA folgen die meisten stationären Programme einem kognitiv-behavioralen Ansatz. Psychotherapie im engeren Sinne ist weniger verbreitet. Vielmehr folgt man dem Grundsatz,,first treatment, psychotherapy comes much later”. Einzelne Behandlungsbausteine sind:

  • viel Information über die Krankheit, u. a. auch mit Filmen,
  • Besprechung familiärer Hintergründe,
  • Selbsteinstufung auf diversen sexuellen Fragebögen,
  • detaillierte Beschreibung des Ablaufs der sexuellen Problemverhaltensweisen,
  • Männer-, Frauengruppe,
  • intensive Einbindung in die diversen Selbsthilfegruppen,
  • Vorbereitung von Familiengesprächen,
  • Abgrenzung gesunder gegenüber auf Scham basierender Sexualität (Tab. 6),
  • Entspannungsverfahren.

Vieles davon ist Suchttherapeuten bekannt. Was ist nun spezifisch für die Therapie der Sexsucht? Durch die Zusammenfassung gleichsinnig Betroffener schnelleres Öffnen, Verminderung der Scham, schnellere Oberwindung der Verleugnung. Für die meisten Patienten entsteht initial hoher Druck durch das Zölibat (keine sexuellen Handlungen mit anderen oder mit sich), also ausdrücklich keine Masturbation. Durch das Fasten von jeglichem Sex wird das aktive sexuelle Ausagieren gestoppt, eine Chance gewonnen, Intimität ohne Sexualität zu erleben, jede Menge unterdrückter Gefühle an die Oberfläche gebracht und insbesondere das Erleben von Schmerz und Schuld für den Sexsüchtigen ermöglicht. In der ersten Woche ist man fast nie allein, die Türen bleiben stets offen, die Unterbringung erfolgt häufig in Mehrbettzimmern, Männer und Frauen in getrennten Zimmern, man muß vor dem Duschen Bescheid sagen. Auftauchende sexuelle Gedanken und Impulse sollen spontan und mehrfach täglich gegenüber Patienten, dem Pflegeteam, dem Therapeuten mitgeteilt werden. Spezifische Kontrakte bzgl. Kleidung, Parfüm, Utensilien, Telefonerlaubnis usw. werden individuell geschlossen. Immer wieder gibt es Ermutigung, mit dem Lügen aufzuhören und die Wahrheit schneller zu sagen. Wichtigste Hausaufgabe ist das schriftliche Vorbereiten des ersten Schritts, der vor der Gruppe vorgetragen werden muß und sehr ins Detail geht. Breiten Raum nimmt das Wieder erlernen von Nähe, von Vertrautheit ohne Sexualität ein. Dies ist für die Betroffenen häufig zunächst kaum vorstellbar, weil sie es in der Vergangenheit selten oder nie erlebten. Als Grundsatz gilt hier, erst brauche ich eine gesunde Beziehung zu mir selbst, dann zum Du und erst danach wird die Schwelle zur Sexualität überschritten (Tab. 6). Auch das Verabreden sieht dann anders aus, es geht nicht um die Beziehungen für eine Nacht, sondern um ein schrittweises, bewußt langsames Aufeinanderzugehen.

Sehr kontrovers diskutiert wird, wie weit die ehrliche Offenlegung der Vergangenheit gegenüber dem Partner gehen soll. Die meisten Betroffenen und viele Therapeuten empfehlen hier (anders als bei Alkoholikern) zunächst abzuwarten und nichts darüber zu sagen, d. h. keine Beichte über Verhältnisse, Clubs, Sauna, Massagen, Prostituierte usw. Hintergrund dafür ist, daß ansonsten wohl die extrem belasteten Partnerschaften auseinandergehen.

Sehr genau wird die sexuelle Entwicklung und die diversen Botschaften positiver wie negativer Vorbilder im Elternhaus betrachtet. Spezifisch und wiederholt werden alle möglichen Formen eigener Mißbrauchserfahrungen angesprochen (Vernachlässigung, Art und Ausmaß von Bestrafung, körperliche Gewalt, verbale Gewalt/Drohungen und sexuelle Mißbrauchserfahrung). Während Mißbrauchserlebnisse insbesondere bei Männern extrem verleugnet werden, können sich Sexsüchtige an das erste sexuelle Erlebnis als jugendliche genau erinnern. Es ist oft sehr früh mit 9, 10 oder 11 Jahren und von einer überwältigenden Intensität. Ähnlich positive Ersterfahrungen haben in Deutschland sonst am ehesten Drogenabhängige, die von ihrem ersten ,Kick” berichten. Wichtiges Merkmal für die Entstehung sexueller Abhängigkeit ist auch, wie diese Ersterfahrung dann immer wieder gesucht wird, um Streß, unangenehme Gefühle verschiedenster Art, Angst, Einsamkeit, Depression zu betäuben bzw. vergessen zu machen. In der Rückschau wird ferner festgestellt, ab wann eine Gewöhnung einsetzte, die Dosis gesteigert wurde oder der Nervenkitzel z. B. durch multiple Partner, Sex in der Öffentlichkeit oder Aufsuchen des Rotlichtmilieus erhöht wurde. Grob kann die stationäre Behandlung in 4 Phasen unterteilt werden:

  • Evaluation (psychologische Tests, Erstinterview, Lebenslauf, ggf. Medikation, Penisplethysmographie (Erregungsmessung),
  • Phase der Offenlegung und Rechenschaftsbericht (Übernahme von Verantwortung dessen, was der Patient getan hat; Beschreibung von exzessiven, süchtigen sexuellen Verhaltensweisen, danach Beschreibung der sexuellen Delikte, Schilderung der Verhaltenskette eines Erregungskreislaufs),
  • Phase der Rückfallprävention (Rückfallpräventionsfragebogen ausfüllen, Verhaltenskette auflisten, diesmal mit Verhinderungs- und Vermeidungsstrategien, Zusammenhang herstellen zwischen Verhaltenskette und negativen Denkmustern/Einstellungen),
  • Phase der Empathie für das/die Opfer (obligat für sexuelle Straftäter/sex offenders), psychodramatische Darstellung der sexuell strafbaren Handlung/Situation, Identifizierung der Opfer, ihrer Gedanken, Gefühle, Auswirkungen der Tat unmittelbar und später, Vertiefung durch Bücher und Filme über Opferschicksale, ggf. Briefe der Entschuldigung/Wiedergutmachung an das / die Opfer.

Die medikamentöse Behandlung hat einen klaren Platz in der Behandlung der Sexsucht. Einige Abhängige geben an, daß die selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) wie Fluoxetin oder Paroxetin die Intensität ihrer sexuellen Obsession positiv beeinflussen, so daß sie besser am Therapieprogramm teilnehmen können. Für andere ist die orgasmusverzögernde Nebenwirkung der SSRI von Nutzen. Außerdem helfen diese Substanzen in der Therapie einer oft vorliegenden (primären oder sekundären) Depression. Auch Antiandrogene wie z. B. Cyproteron (Androcur) werden insbesondere bei sexuellen Straftätern eingesetzt.

In der Vorbereitung der Entlassung haben sich individuelle Vertrüge bestens bewährt. Durch zunehmendes Erkennen der ritualisierten, stufenweise verlaufenden inneren und äußeren Prozesse (Auslöser- und Verhaltensketten) wird es den Sexsüchtigen möglich, bestimmte gefährliche ,Kreuzungen” erst gar nicht anzusteuern, d. h. bestimmte Situationen, Verhaltensweisen aus ihrem Leben fernzuhalten. Dies geschieht u. a. in Form eines Vertrags, der spezifisch und im einzelnen diese rückfallbahnenden Situationen/Verhaltensweisen benennt und die künftige Vermeidung festlegt. Tritt dann dieses Verhalten später auf, wird es je nach Situation als einmaliger Ausrutscher, Rückfall oder fortgesetzter Rückfall aufgefaßt mit entsprechenden Konsequenzen für die Therapie. Utilisiert werden auch weitere Techniken der Verhaltensmodifikation, z. B. die 3-s-Regel, eine Begrenzung der Zeit, die auf einen Reiz oder ein Objekt fokussiert wird. das sexuell stimulierend ist.

Selbsthilfegruppen für Sexsüchtige und Angehörige

Wie bei den anderen Abhängigkeiten auch, sind nach dem Vorbild der AA spezielle 12-Schritte-Gruppen für Sexsüchtige entstanden. Wir haben diese Gruppen auch in Deutschland. Anders als bei den AA-Gruppen ist es sehr schwer, als Therapeut hier eine offene Gruppe mitzuerleben:

  • Anonyme Sexsüchtige,
  • S-Anon Angehörigengruppe,
  • Sex und Liebessüchtige und ihre Angehörigen (SLAA)
  • in den USA zusätzlich Recovering couples,
  • Sexual compulsives Anonymous (für Homosexuelle),
  • Sexaholics Anonymous.

Alle diese Gruppen sind offen für Menschen mit sexuellen Problemen. Unterschiede gibt es in der Definition von Abstinenz. Anders als beim Alkohol kann totale Abstinenz nicht das Ziel sein, aber was ist gesunde Sexualität, welche Maßstäbe für sexuell abstinente Lebensführung werden angelegt? In den einzelnen Gruppen liegt der Schwerpunkt z. T. anders, z. B. bei den SA gilt als einzig akzeptiertes sexuelles Verhalten Sex mit dem Ehepartner, was für Homosexuelle wenig Lösungsmöglichkeiten bietet. Bei den SLAA kann jeder innerhalb gewisser Grenzen seine sexuelle Abstinenz selbst festlegen: äußerer – mittlerer – innerer Kreis von Verhaltensweisen. Als Fachmann wird man sich sinnvoller Weise mit den nächstgelegenen Gruppen in Verbindung setzen, ggf. eigene Informationsdefizite ausgleichen und Anlaufadressen und Telefonnummern für Betroffene bereit halten können (Tab. 7).

Verlauf der Genesung

Im Vergleich zur stoffgebundenen Abhängigkeit dauert die Verbesserung der Lebensqualität bei genesenden Sexsüchtigen eher länger. Insbesondere im ersten Jahr gibt es viele Umbrüche. Die größte Rückfallgefàhrdung liegt im zweiten Halbjahr. Eine Fülle von Konsequenzen aus der aktiv süchtigen Phase etwa im Bereich der Partnerschaft, der Gesundheit, des Zivil- und Strafrechts oder den Finanzen können schwere Einschnitte mit sich bringen. Weil oft sehr wenig gesunde Einstellungen und Verhaltensweisen für Beziehungspflege oder auch gesundes sexuelles Verhalten vorhanden sind, erleben Sexsüchtige unter Umständen auch innerhalb der Sexualität plötzlich mehr Schwierigkeiten, als das vorher der Fall war. Hier sind die therapeutische Begleitung und die Paararbeit in Gruppen/Selbsthilfegruppen wichtige Instrumente, um in der Genesung fortzuschreiten.

Wirkliche, spürbare positive Entwicklungen erleben die meisten Betroffenen im zweiten und dritten Jahr ihrer Genesung. Das Selbstvertrauen und Selbstbild verbessert sich stark, die Umgebung gewinnt wieder Vertrauen, Freundschaften und berufliche Verbesserungen ergeben sich für viele.

Das Leben der Angehörigen Sexsüchtiger kommt erst wieder im Verlauf der Zeit in eine positive Lebensqualität. Auch die Angehörigen müssen zunächst mit starken Emotionen verschiedenster Art, äußeren und inneren Krisen und ihren eigenen süchtigen und koabhängigen Seiten lernen auszukommen. Oft ist die Partnerschaft zusätzlich belastet, wenn die Genesung des Sexsüchtigen und der Partner zeitversetzt erfolgt, wobei die Partner eher in den ersten 6 Monaten und die Sexsüchtigen eher in den zweiten 6 Monaten der Genesung die maximalen Streßphasen erleben.

Während in der initialen (stationären) Therapie die massivsten Traumata der Kindheit oft nur benannt werden konnten, kommen die Einzelheiten des Erlebten, die vielfältigen Auswirkungen insbesondere in nahen Beziehungen, die Gefühle von Scham, Schmerz usw. oft erst nach und nach in das Bewußtsein und Fühlen der Betroffenen. Hier ist eine psychotherapeutische Begleitung, die sorgfältig und geduldig die einzelnen Schritte unterstützt, sicher sinnvoll.

Rückfälle kommen bei der Sexsucht genauso vor, wie bei jeder anderen Suchtform. In ihren Auswirkungen können sie noch destruktiver sein, etwa wenn eine erneute Verhaftung aufgrund von exhibitionistischem Verhalten vorliegt oder die Partnerin den Rückfall als Anlag zur Trennung nimmt. Als Grundsatz gilt: Den Rückfall nicht zur Katastrophe werden lassen, verstärkten Kontakt zur Einzeltherapie, zur Paartherapie, zur Selbsthilfegruppe, zu anderen Genesenden suchen.

Tabelle 1

Beispiele süchtigen sexuellen Verhaltens (nach 4 und 21)

  • Ein knapp 50jähriger Selbständiger zieht sich mehrere Nachmittage pro Woche in sein Wohnmobil zurück, schaut über Stunden Pornovideos an und masturbiert dabei mehrfach; die wirtschaftliche Situation seines Dienstleistungsbetriebs ist desolat
  • Eine Frau befriedigt sich selbst so heftig mit einem Vibrator, daß sie sich verletzt und den Notarzt rufen muß
  • Ein Pfarrer hat sich angewöhnt 1000 US-Dollar pro Woche für Prostituierte auszugeben; das kann er sich nur leisten, weil er das Geld dafür aus der Gemeindekasse entwendet
  • Eine 40jährige Frau, die in der Kindheit mehrfach vom Vater sexuell mißbraucht wurde, zieht als Erwachsene immer wieder wohlhabende, z. T. deutlich ältere Männer in ihr Leben; in diversen Entwöhnungstherapien hat sie jeweils eines oder mehrere Verhältnisse zu Mitpatienten, was die Therapie blockiert und eine therapeutische Entlassung provoziert
  • Ein 30jähriger Zahnarzt ist wütend darüber, daß seine Frau nicht mit ihm schlafen will; er gibt ihr heimlich Drogen, damit sie mit ihm schläft
  • Ein 36jähriger Mann wird zum dritten Male festgenommen, weil er Damenunterwäsche stiehlt
  • Ein jung verheirateter Allgemeinmediziner mit zwei kleinen Kindern, diversen außerehelichen Affären und enormen Schulden versucht innerhalb der Therapie, die ihm einen Ausweg aus einer verzweifelten Situation weisen soll, auch noch die Arztsekretärin anzumachen
  • Der leitende Techniker einer Firma ist innerhalb von 2 Jahren 7mal beschuldigt worden, andere sexuell belästigt zu haben; jetzt kommt eine Klage von einem der wichtigsten Kunden

Tabelle 2

Hinweise und Zeichen für eine sexuelle Abhängigkeit

  • Patient erfährt ernste Konsequenzen aufgrund seines / ihres sexuellen Verhaltens
  • Patient erfüllt die diagnostischen Kriterien für eine Depression und das im Zusammenhang mit sexuellem Ausagieren
  • Patient berichtet einen sexuellen Mißbrauch in der Vorgeschichte
  • Patient berichtet einen gewalttätigen oder emotionalen Mißbrauch in der Vorgeschichte
  • Patient beschreibt sein Sexualleben wie andere eine Medikamentenwirkung (berauschend, alle Spannung lösend, schmerzstillend, wie eine Schlaftablette)
  • Patient beschreibt bei sich Hochrisiko oder selbstdestruktives Verhalten
  • Patient beschreibt, daß sein sexuelles Verlangen sehr viel stärker sei, wenn hochriskantes oder gefährliches Verhalten mit dabei ist
  • Patient beschreibt Vergnügen oder Entspannung während der sexuellen Aktivität, erlebt jedoch gleich danach tiefe Verzweiflung
  • Patient erfüllt die diagnostischen Voraussetzungen für stoffgebundene Abhängigkeiten
  • Patient kann nur sexuelle Erfüllung finden, wenn Sex in Kombination mit anderem Suchtverhalten (Spielen, Essen, Alkohol-Medikamente, zwanghaftes Kaufen usw.) ausgeübt wird
  • Patient hat eine Vorgeschichte, mit Täuschungen/Lügen im Bereich der Sexualität
  • Patient gibt Suchtverhalten auch bei anderen Familienmitgliedern an
  • Patient äußert extreme Selbstabwertung/Selbsthaß im Zusammenhang mit seinem Sex
  • Patient beschreibt Phasen totaler sexueller Abstinenz oft gefolgt von Phasen weitgehenden sexuellen Kontrollverlusts
  • Patient beschreibt Phasen weitgehenden sexuellen Kontrollverlusts
  • Patient ist in einigen Lebensbereichen zwanghaft sexuelle in anderen zwanghaft asexuell
  • Patient verfügt über wenige/keine nahen Beziehungen, die nicht sexuell sind
  • Patient hat schon einmal Selbstbeschädigung durchgeführt
  • Patient ist in einer krisenhaften Verfassung wegen sexueller Vorkommnisse
  • Patient hat in der Vorgeschichte Krisen wegen sexueller Vorkommnisse
  • Patient erlebt verringerte/keine Befriedigung in den üblichen sexuellen Verhaltensweisen
  • Patient zeigt/erlebt starke Stimmungsschwankungen im Zusammenhang mit sexuellem Verhalten

Tabelle 3

Muster und Themen sexueller Abhängigkeit (nach 6)

Phantasiesex:

  • Zwanghaftes Denken an sexuelle Abenteuer
  • Vernachlässigung von Verpflichtungen und entsprechende Konsequenzen

Sexuelle Verführerrolle:

  • Orientierung auf Verführen und Erobern
  • verschiedene, parallele Beziehungen
  • diverse Augenbeziehungen
  • ständige Sexualisierung fast jeden Kontakts

Anonymer Sex:

  • Sex mit unbekannten Partnern
  • Affären für eine Nacht

Sex gegen Geld:

  • jemand für sexuelle Aktivitäten bezahlen (Bordell)
  • Anrufe bei Sexdiensten

Mit Sex handeln:

  • Herstellung, Vertrieb oder Verkauf sexueller Artikel, Pornos, Videos usw.
  • sich oder andere gegen Geld für Sex anbieten

Voyeuristischer Sex:

  • jegliche visuelle Sexualität
  • Pornographische Schriften oder Videos anschauen
  • Stripteaseshows
  • andere mit Ferngläsern, Kameras beobachten
  • durch Wohnungsfenster schauen

Exhibitionistischer Sex:

  • sich in der Öffentlichkeit entblößen, z. B. im Auto, im Park, in der Schule
  • Kleidung wählen, die sexuelle Zonen freilegt, oder Löcher in Kleidung schneiden

Zudringlicher Sex:

  • andere ohne Erlaubnis berühren, befummeln, unangemessene sexuelle Gesten, unpassende Witze
  • eigene Machtposition (professionelle oder religiöse Helfer, Vorgesetzte) benutzen, um sich anderen sexuell zu nähern
  • geht bis zur Vergewaltigung

Schmerzhafter Sex:

  • sich oder andere beim Sex körperlich verletzen oder zur Luststeigerung Schmerzen zufügen (lassen)
  • Ausagieren dramatischer Szenarien im Sex
  • Einsatz sexueller Hilfsmittel diverser Art

Sex mit Objekten:

  • mit Objekten masturbieren
  • Fetische bei sexuellen Ritualen benutzen
  • Sex mit Tieren

Tabelle 4

Szenarien beruflicher sexueller Ausbeutung (nach 15)

  • Therapeutische Berührung wird erotisch oder wird vom Patienten als sexuell erlebt
  • Sichbemühen oder emotionale Unterstützung wird weit über professionell gebotene Grenzen ausgeübt
  • Romantische Verquickung mit Patienten
  • Einsetzen der eigenen Position oder Macht um sexuelle Belange einzubringen
  • “Eine verhängnisvolle Affäre” oft vielleicht aus einer Rettungsphantasie heraus
  • Frotteurismus, Voyeurismus oder Exhibitionismus innerhalb der Berufsrolle
  • Unnötige oder unnötig intensive genitale/vaginale Untersuchungen
  • Rohe, anzügliche, unangemessene Sprache oder Ausdrucksweise gegenüber Patienten
  • Berufliches Angebot Lustfördernde Techniken persönlich auszuprobieren
  • Übergriffe an Patienten, die körperlich, geistig oder emotional keinen Widerstand leisten können oder aufgrund von Rausch sowie Anästhesie benommen sind
  • Persönliches Angebot einer Sextherapie bei Patienten mit Beziehungs- oder Sexualitätsproblemen
  • Angebot persönlicher Hilfe bei Konflikten um die sexuelle Orientierung eines Patienten durch eigenes sexuelles Einlassen auf diesen Patienten
  • Szenisches Ausagieren der inzestuösen Phantasien oder vergangener sexueller Erlebnisse im Kontakt mit Patient, Klient oder Gemeindemitglied

Tabelle 5

Screeningtest für sexuelle Abhängigkeit/Sucht (nach 6)

  • Sind Sie als Kind oder jugendlicher sexuell missbraucht worden?
  • Haben Sie bislang einmal ausgesprochene Sexmagazine abonniert oder regelmäßig gekauft?
  • Hatten Ihre Eltern sexuelle Probleme?
  • Haben Sie bei sich selbst festgestellt, daß Gedanken sexuellen Inhalts im Vordergrund stehen?
  • Haben Sie das Gefühl, Ihr sexuelles Verhalten ist nicht normal?
  • Macht Ihr Partner (oder sonstige nahestehende Person) sich Sorgen oder beklagt sich über ihr Sexualverhalten?
  • Haben Sie Schwierigkeiten, Ihr sexuelles Verhalten abzubrechen, wenn Sie wissen, daß es unpassend ist?
  • Fühlen Sie sich jemals schlecht aufgrund ihres Sexualverhaltens?
  • Hat ihr Sexualverhalten jemals ihnen oder Ihrer Familie Probleme bereitet?
  • Haben Sie jemals Hilfe gesucht wegen eines Sexualverhaltens, das Ihnen unangenehm war?
  • Sind sie jemals besorgt gewesen, andere Menschen könnten über Ihr Sexualverhalten Kenntnis erlangen?
  • Ist einmal jemand durch Ihr Sexualverhalten emotional verletzt worden?
  • Sind irgendwelche Ihrer sexuellen Vorlieben gesetzwidrig?
  • Haben Sie sich selbst vorgenommen, einige Aspekte Ihres Sexualverhaltens aufzugeben?
  • Haben Sie sich bemüht, eine Art Ihres sexuellen Verhaltens aufzugeben und sind dabei gescheitert?
  • Müssen Sie einige Aspekte Ihres Sexuallebens vor anderen verbergen?
  • Haben Sie versucht, einige Teile Ihrer sexuellen Aktivitäten aufzugeben?
  • Haben Sie sich irgendwann einmal minderwertig (degradiert) gefühlt aufgrund Ihres Sexualverhaltens?
  • Ist Sex für Sie eine Möglichkeit gewesen, Problemen zu entfliehen?
  • Wenn Sie Sex haben, fühlen Sie sich dann nachher niedergeschlagen /deprimiert? Haben Sie bisher einmal die Notwendigkeit gespürt, mit einer bestimmten Form von Sexualität aufzuhören?
  • Sind ihre sexuellen Aktivitäten einmal mit Ihrem Familienleben kollidiert?
  • Sind Sie einmal Minderjährigen sexuell nahe gewesen?
  • Fühlen Sie sich durch ihr sexuelles Verlangen bestimmt oder kontrolliert?
  • Haben Sie jemals den Gedanken gehabt, daß Ihr sexuelles Verlangen stärker als Sie ist?

Anmerkung: Die positive / bestätigende Antwort auf 13 Fragen läßt mit hoher Wahrscheinlichkeit auf sexuelle Abhängigkeit schließen

Tabelle 6

Gesunde Sexualität gegenüber auf Scham basierender Sexualität

Gesunde Sexualität:

  • in Beziehung treten und bleiben
  • Fähigkeit zur wirklichen Intimität
  • Leidenschaft und Hingabe
  • sexuelle Nichterfüllung/warten müssen ist ohne große Bedrohungsgefühle möglich
  • gesundes Selbstwertgefühl
  • Gefühl Ziele wählen und erreichen zu können
  • Leichtigkeit und Freude

Auf Scham basierende Sexualität:

  • sexuelle Abhängigkeit und Koabhängigkeit
  • kein inniges in Beziehung treten mit dem Partner
  • vermeiden wirklicher Intimität
  • emotionales Eingefroren sein
  • fixiert sein auf schnelle Erfüllung
  • Nichterfüllung/warten müssen ist ich-bedrohend
  • körperliches Blockiertsein
  • geringes Selbstwertgefühl
  • Scham
  • Überzeugung der Ohnmacht
  • frühe Erfahrung (sexuelles) Opfer zu sein


Tabelle 7

Zusammenfassung der wichtigsten Faktoren sexueller Abhängigkeit

  • Sexabhängigkeit tritt bei ca. 3-6% der Erwachsenen auf
  • Sie ist gekennzeichnet durch zunehmendes sexuelles Phantasieren, Handeln; eine klare Gewöhnung mit Notwendigkeit, Häufigkeit oder Intensität des Verhaltens zu steigern; trotzt gravierender Konsequenzen in Familie, Arbeit oder Finanzen wird das Verhalten beibehalten und alle Versuche es zu kontrollieren, scheitern
  • Sexsucht ist keine DSM-IV-Diagnose; In Frage kommen sexuelle Störung NNB, Paraphilie NNB, Störung der Impulskontrolle NNB
  • Ein ausführlicher Fragebogen von Carnes enthält gegenwärtig 170 Fragen, eine Kurzversion mit 25 Fragen ist als Screeningtest verfügbar
  • Sexabhängigkeit ist – wie andere Abhängigkeiten – eine Familienerkrankung
  • Die Anamnese ergibt bei Sexabhängigen und ihren Partnern sehr oft eine Mißbrauchserfahrung (emotional, körperlich, sexuell) in der Kindheit; oft werden dann aus den Opfern später Täter, so daß mehrere Generationen betroffen sind
  • Eine genaue Suchtanamnese ist wichtig, denn bei ca. 50-60% liegt außerdem eine Abhängigkeit von Alkohol/Medikamenten vor
  • Bei Mehrfachabhängigen sollte die Substanzabhängigkeit zuerst und anschließend die Sexabhängigkeit behandelt werden
  • Eine reine Entwöhnungsbehandlung wegen Alkohol/Medikamenten führt offenbar nicht zur Eindämmung des sexuell abhängigen Verhaltens; oftmals ist eher das Gegenteil der Fall
  • Am Anfang der Behandlung steht die Notwendigkeit einer Phase von 90 Tagen in denen Betroffene weder mit anderen noch mit sich Sex haben (Zölibatzeit)
  • Gründliche Gespräche über Merkmale gesunder Sexualität gegenüber abhängiger Sexualität sind mehrfach zu führen
  • Es ist wichtig, sich das sexuelle Verhalten/Erregungskette genau schildern zu lassen
  • Spezifisch nachzufragen sind Rolle und Ausmaß begleitender Aggression/Gewalt
  • Individuelle Therapieverträge bzgl. bestimmter Verhaltensweisen können sinnvoll, ja erforderlich sein. Manche Sexsüchtigen werden erst beim Durchbrechen der Abstinenz/ Fastenregeln als solche erkannt
  • Immer wieder hinweisen auf die Öffnung zur Wahrheit: “Sag die Wahrheit früher” Dies stellt hohe Anforderungen an die Therapeuten; eine Auseinandersetzung mit den eigenen Höhen und Tiefen der Sexualität ist sehr wünschenswert, kann aber bei normaler Psychotherapieausbildung nicht erwartet werden
  • Bei der Behandlung von sexuellen Tätern ist sorgfältig zu prüfen, wie weit eine Integration in eine Patientengruppe möglich und sinnvoll ist und auch vom Gesamtteam geleistet werden kann; Selbsterfahrung in der Auseinandersetzung mit den eigenen Täteraspekten dürfte ebenfalls sehr wünschenswert sein
  • Möglichst früh und verpflichtend Besuch spezifischer Selbsthilfegruppen wie SA, SLAA
  • Sehr wichtig – wie bei allen Süchten – die Einbeziehung der Angehörigen durch Familiengespräche; Hinweise auf Angehörigenselbsthilfegruppen wie S-Anon usw.
  • Inzesterfahrungen und deren Wiederholung mit Ärzten/Therapeuten/Priestern finden sich bei Sexabhängigen gehäuft; es ist auf die eigene Grenzziehung/Grenzgefährdung speziell zu achten (Supervision)
  • Wer mit Sexabhängigen arbeitet, wird Namen und Vorfälle von Kollegen erfahren, die ihre Helferrolle mißbraucht und Patienten geschadet haben

Anmerkung: Überlegen Sie, was Sie den Betroffenen raten und ob Sie selbst bereit sind, per Anzeige oder Anruf bei berufständischen Organisationen Einhalt zu gebieten

Anschriften von deutschen Selbsthilfegruppen für Sexsüchtige und ihre Angehörigen und für Opfer sexueller Übergriffe:

  • S-Anon: Kreuzstrage 13, 76133 Karlsruhe (Angehörige),
  • AS-Anonyme Sexaholiker.- Postfach 1262, 76002 Karlsruhe
  • SLAA: Sex- und Liebessüchtige Anonym-The Augustine Fellowship, Brodersenstrage 85, 81929 München,
  • SAA und COSA: Sex-Addicts anonymous und Angehörige (COSA), clo Himmelfahrtskirche, Kidlerstrage 15, 81371 München
  • Institut für Psychotraumatologie e. V., Springen 26, 53804 Much

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GÖLZ, Moderne Suchtmedizin, 3/1998, Thieme Verlag