professioneller Sexueller Mißbrauch – Vortragsexposé UNI Tübingen

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7. TÜBINGER FORENSISCH PSYCHIATRISCHES GESPRÄCH
FREITAG 12. April 2002
SEXUELLE ÜBERGRIFFE DURCH ÄRZTE UND PSYCHOLOGEN

Sexuelle Übergriffe von Ärzten und Psychologen sind selten, haben jedoch durch die schwerwiegenden Auswirkungen ein besonderes Gewicht für alle Ärzte

I Einleitung

· Vorstellung, Zeuge diverser Fälle
· PT Patientin 17 ET abends, zentriert um Sex ohne Abrechnung
· persönliches Erlebnis einer verführerischen Patientin
· Wissen um diverse intime Arzt-Pat Beziehungen
incl. Schwangerschaft und Abtreibung,
· Unangemessene Kontakte in ärztlichen Ausbildungs-
Beziehungen (Doktorand, Supervision)

II Bandbreite sexueller Grenzverletzungen

· sexueller Mißbrauch ereignet sich wo ein Machtgefälle oder bes. Stellung da sind zB. bei Polizei, Schule, Ärzten, Anwälten, Professoren, Priestern und Bischöfen
· Sehr verschiedene Definitionen, keine verbindliche Definition jenseits der strafrechtlichen §§
· USA: Sexuell grenzverletzend ist, was ein Patient/in als grenzverletzend erlebt ??
· Unangemessene Berührung,
zu lange Berührung
Austausch von Zärtlichkeiten
Liebesbeziehung während oder nach der Behandlung
im Extrem Sexualität mit wehrlosen, bewusstlosen Pat.
oder Jugendlichen und Kindern
· Deutliche Grauzone z.B. Angehörige von Pat. (Herr d. Gezeiten) oder Bzhg. nach einer Behandlung
· Mißbrauch von MACHT als wesentliches Charakteristik.

III Zahlenmäßige Größe des Problems

alle Zahlen nur mit großer Vorsicht aufnehmen
schwere Fälle von Mißbrauch ereignen sich selten
viel häufiger sicher Kontakte unterhalb der Strafbarkeit

· US- Befragungen 6-9% aller Helfer haben sexuelle Kontakte zu Pat./Klient/in während ihrer Laufbahn (J. Schneider)
· Fischer & Fischer schätzen 50 -300 Fälle sexueller Übergriffe in der Kassen PT pro Jahr in der BRD
· Geschlechterverteilung – keineswegs nur Männer,
ca. 15-20% Frauen Ca: 80-85% Männer
· Die Zahl der Falschanzeigen wird auf unter 5% geschätzt
· Eine gründliche Suche in der Urteilsdatenbank, Pressearchiven etc. brachte pro Jahr nur wenige
Verurteilungen von Ärzten wegen sexueller Delikte

IV AUSWIRKUNGEN auf die Patientinnen + Patienten

· i.d.R. gravierend!
- oft Wiederholung früherer Missbrauchserfahrungen,
- Vertrauensverlust,
- Depressionen,
- suizidale Handlungen
- sexuelle Störungen
- Partnerprobleme,
- sekundäre Viktimisierung durch juristische Schritte.

· Z.T unfreiwillige Eskalation auf Seiten der Opfer
durch Anwälte, Presse etc.
- Dramatisierung der Ereignisse
- Bloßstellung in intimen Bereichen
- Verdrängung oder Leugnung möglicher eigener
Verhaltensweisen
- Schwarz Weiß Denken
- selten die Möglichkeit der Rache oder Gewinnstreben

V Auswirkungen auf Beteiligte und Vorgesetzte

· Auch bei Nicht Bekanntwerden einer Grenzverletzung gibt es Auswirkungen auf die Patienten und den Arzt.
es bleibt die Unsicherheit einer “Zeitbombe”
· Bei Bekanntwerden resultiert beruflicher und privater Alptraum (Super GAU)
unabhängig von strafrechtlichem Ausgang.
allein der Vorwurf kann ausreichen um das Leben nachhaltig zu verändern :
· massive In Frage Stellung der beruflichen Leistung und der
Person beschuldigter Ärzte/innen
- Rufschädigung auch bei Freispruch (Medical tribune)
- erhebliche juristische Komplikationen
- arbeitsrechtliche Konsequenzen sofortige Freistellung,
Kündigung
- Mißtrauen und mögliche Ausgrenzung aus der kollegialen
Gruppe zu einem frühen Zeitpunkt
- Blosstellung in den Medien, die (fast immer) einseitig
die Position des “Opfers” vertreten
- persönlicher Datenschutz geht weitgehend verloren
- deutliche Rückwirkungen auf private Beziehungen Ehe,
Kinder, Verwandte Freunde
- Nachforschungen an bisherigen Arbeitsplätzen und
Aufdeckung aller irgendwie gearteter Vorwürfe
- u.U. Beschlagnahme der Krankenakten und Fragebogen
an ca. 1000 Patientinnen wie im Mai 2001 bei einem Arzt
aus Neu-Ulm, Beschlagnahme von Videos, e-mails,
Computern
- Abdruck eines Bildes, des Praxisschildes und des Namens
eines Allgemeinmediziners, gegen den das Verfahren
eingestellt wurde (im Focus 47/97)
- Aug 96 Freispruch eines 66j Chirurgen aus Neumünster;
Bericht in der Bildzeitung m i t Bild und Namensnennung
· Auswirkungen- VORGESETZTE

· Vorgesetzte kommen in immense Rechtfertigungszwänge
-müssen etwas tun zur Schadensbegrenzung;
-werden sehr schnell in die Mitverantwortung gezogen
(Organisationsverschulden)
-müssen fast immer versuchen, den Schaden für eine Klinik
und für ihre Person zu begrenzen:
- Folge: schnelles Abrücken von den Beschuldigten
Ärzten/innen
· immer mehr kommen neben den direkten Tätern auch d. Vorgesetzten in die Medien
Bsp. USA Bischöfe Newsweek

VI Verstehen wie Ärzte sich in Grenzverletzungen verstricken

· Geschichten von ärztlichen Tätern hören
· Gemeinsamkeiten
- Bedürftigkeit des Arztes
- Naivität
- ich laß mir nichts vorschreiben
- mangelndes Grenzbewusstsein
zB. beim naiven Anfänger oder narzisstischer Persönl.
- Krise im Privatleben – Paarkonflikt
- im Verlauf einer stoffgebundenen Sucht
- im Verlauf einer nicht stoffgebundenen Sucht
- Selbstüberschätzung der eigenen Kontrolle
- Überzeugung der Patientin / dem Patienten zu helfen
- wenig Selbsterfahrung und Fühlung mit eigenen Anteilen
VII ausgewählte Fälle sexueller Übergriffe

Datum Beteiligte Urteil*
2002 -3 35j Facharzt in KH, sex. Nötig. 1F Stuttgart 3J 10M
2001 -5 57j Notarzt, Vergew. +sex. Mißbrauch, Lübeck 4J 6 M
2000 -6 38j Gefängnis- Psychologin, Sex mit Häftling, Sachsen Kündigung
2000- 1 CH Gyn. wegen sex. Schändung + Mordversuch App.weg
1999 -1 61j Orthop. Sex Beläst. in 2 F. Stuttgart, 30 TDM Strafe 10 Mon
1998 -9 48j Internist in KH, sex. Belästigung, München Kündig.
1998 -7 55j pädiatr. CA pädophile Handlungen, Hannover App.weg
1997-12 6j Allgemeinmediziner, Mißbrauch an 9 Jungen, Stuttgart 9 J
1997 -5 33j Gynäk in KH, sex. Nötigung 1F , Lübeck 8 Mon
1997 61j Internist, sex Mißbr. 16j in Narkose Lindau 2 J Bewähr.
1996 -8 Chirurg, versuchte. Vergew. Arzthelferin, Hamm Kas-weg
1996 -6 52j Psychol. Prof, sex. Nötigung, Konstanz 1J 6Mon
1995 -9 59j Zahnarzt Mißbr. Minderj- div. F, Bonn Praxis zu
1995 -4 66j Psych, Züricher Amtsarzt; Gerichtsgut. U-haft
1994-12 36j Zahna. Sex. Belästig, Wied.täter, Aachen Praxis zu
1994 -5 Anästh. Chefarzt, sex Mißb. an 15j, HH Kündigung

* z.T. handelt es sich um noch nicht rechtskräftige Urteile,
Angaben aus Presse und Datenbanken

VIII Verhältnisse in den USA

· Schon vor ca 10-15 J einschlägige Gesetze und Empfehlungen auch der APA (1985),
AMA , Council on Ethical affairs (1991):
“sexual contact or a romantic relationship with a patient or with a former patient…. is   unethical”
· Anzeigepflicht für Kollegen
· Sehr viel strengere Grenzen auch n a c h Ende einer Behandlung …..
· Strengerer Schutz hat auch Nachteile
Wegfall von Nähe, unterlassene Diagnostik, Kosten etc.
· Approbations- und Lizenzbehörden arbeiten mit mehrtägiger Begutachtung, Auflagen,
· Begutachtung i.d.R. 3-5 Tage stationär
verschiedene Fachleute (Psychiater, Psychologen,
Suchtspezialist, Internist)
Ziel Rekonstruktion der Ereigniskette inkl.
früherer möglicher Auffälligkeiten
Erarbeitung einer kausalen Hypothese (why)
Arzt zu angemessener Selbsterkenntnis führen
Arzt ermutigen eine Therapie zu beginnen
· Ergebnis von 150 Begutachtungen (Irons/Schneider):
25% keine Auffälligkeit, gleich zurück in Beruf
7% unklar ( keine klare Aussage möglich)
58% klare Diagnose, Behandlungs- und Rehavorschlag
· Diagnostische Bewertung
37% sichere Substanzabhängigkeit
> 50% sexuelle Störungen mit süchtigen Anteilen
Paraphilie, nnb (ICD -10 F 65.9)
Störung der Impulskontrolle nnb (ICD -10 F 63.9)
sexuelle Störung nnb (ICD -10 F 52.9)
· Therapieempfehlungen
1. spezifische Suchttherapie
2. bei Persönlichkeitsstörung tiefenpsychol. Ther.
3. bei Paraphilien kognitive VT
4. Sexaholics Anonymous- Selbsthilfegruppe für Sexsüchtige


IX Prävention und Therapie

1. mehr Hinweise auf richtigen Umgang mit Patientinnen, insbes. bei Körperkontakt
2. Schutzmaßnahmen z.B. dritte Person
3. keine oder minimale Selbstoffenbarung
4. keine unbezahlte Behandlung
5. Wartezeit nach Behandlungsende
6. keine Abend- oder Nachttermine ohne Personal
7. Supervision
8. bei Problemen und Verwicklungen sofortige Weiterleitung von Patient/in,
9. Formulierung verbindlicher ethischer Richtlinien der Berufsverbände und LÄK
10. kontinuierliche Fortbildung speziell auch bei Berufsanfängern
11. Einrichtung einer Beschwerde/Anlaufstelle für betroffene Pat.

Offene Fragen

1. Gilt ein absoluter Opferschutz oder gibt man Verurteilten
professionellen Helfern trotz einiger Rückfalltäter noch eine  zweite Chance?
2. was passiert mit den Tätern später, verlieren sie für immer die
Approbation, lassen sich patientenferne Bereiche finden?
3. Wieso entdecken professionelle Ausbildungen incl. langjähriger
Lehranalysen nicht d. pathologischen Persönlichkeitsstruktur?
4. Schützen die neuen Leitfäden für Hochschulleitungen und die
Frauenbeauftragten wirklich die Beschäftigten/ Patientinnen?
5. Wo stehen für Ärzte mit sexuellen Übergriffen geeignete
Therapieplätze zur Verfügung?

 

XI Literatur

1. C.G. (1998): Hausarzt angeklagt, freigesprochen, trotzdem ruiniert, Medical Tribune, vom 30.1.1998
2. Carnes, P.: (1992) Wenn Sex zur Sucht wird. Kösel Verlag, München,
3. Fischer, G.; Becker-Fischer, M. (1994) Sexuelle Übergriffe in Psychotherapie und Psychiatrie. Zwischenbericht für das Bundesministerium für Frauen und Jugend, Bonn,
4. Becker-Fischer,M.; G. Fischer: (1996) Sexueller Mißbrauch in d. Psychotherapie – was tun? Asanger Verl.
5. Irons R.; Schneider J.: (1999) The wounded healer – Addiction sensitive therapy for the sexually exploitative Professional, J. Aronson Publ.
6. Koch,M.; C. Sturm (1997) Unmoralische Praxis. Focus 47/1997
7. Mäulen, B.: (1997) Strenges Vorgehen gegen sexuelle Übergriffe. Dt. Ärzteblatt 94, 2806-2807
8. Mäulen, B.: Irons, R.: (1998) Süchtige Verhaltensweisen im Bereich der Sexualität. In Gölz (Hrsg.): Moderne Suchtmedizin. Thieme Verlag (ausführliches Literaturverzeichnis, diverse Tabellen)
9. NN ( 1998): Kindesmissbrauch- Hab dich nicht so.
Spiegel 28/1998
10. Rutter, Peter: (1991) Verbotene Nähe. ECON Verlag

Adresse des Referenten:
Dr. med. Bernhard Mäulen
Leiter Institut für Ärztegesundheit
St. Nepomukstr. 1 / 2
78048 Villingen Schwenningen
docmaeulen@googlemail.com