Arztideal und der ideale Arzt

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Ärztliche Wunsch- und Leitbilder in Abhängigkeit von der Berufstätigkeit

Verfolgt man die Berichte und Untersuchung zur Situation des Arztberufes in der aktuellen Literatur, dann entsteht der Eindruck, daß sich das Befinden der Ärztinnen und Ärzte selbst zu einem problematischen Aspekt des Gesundheitssystems entwickelt hat (16). Hohe Suizidalität (1,18), Alkoholabusus sowie Mißbrauch von Medikamenten und Drogen (9,12), aber auch die insgesamt erhöhte psychische Morbidität (5,17) sowie die Überzeugung der Mehrheit der Ärztinnen und Ärzte, daß ihr Lebensstil der eigenen Gesundheit schade (8), signalisieren Handlungsbedarf, insbesondere in Richtung einer Förderung unterstützend wirkender Faktoren in diesem Berufsfeld (7).

Untersuchte Fragestellungen

  • Wie nehmen niedergelassene Ärztinnen und Ärzte die Arztideale der Allgemeinbevölkerung wahr?
  • Welches sind die aktuellen Idealvorstellungen zum Lebensstil als Arzt oder Ärztin?
  • Welche Vorstellungen vom idealen Arzt existieren bei den Ärztinnen und Ärzten selbst?
  • Lassen sich bei den einzelnen Fragestellungen Unterschiede im Zusammenhang mit der Dauer der Berufstätigkeit feststellen?

Es ist unbestritten, daß eine zumindest phasenweise Erfüllung vorhandener Idealvorstellungen das individuelle Wohlbefinden fördert. Umgekehrt werden wiederholt enttäuschte Erwartungen als eine zentrale Entstehungsbedingung von beruflichem Burnout benannt (2,3). Eine gründliche Untersuchung der Art, Bedeutung und Entwicklung dieser idealen Vorstellungen kann demnach einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Möglichkeiten von Förderung beruflicher Zufriedenheit und Lebensqualität der Ärztinnen und Ärzte leisten.

Enttäuschte Ideale und ärztliche Lebensqualität

Jeder möchte als potentieller Patient im Arzt viele hilfreiche Eigenschaften in möglichst idealer Weise verwirklicht sehen. Mit diesen Idealbildern in Form von Erwartungen, Wünschen und Hoffnungen, die ihm von seinen Patienten entgegengebracht werden, ist der am Mensch tätige Arzt täglich konfrontiert. Dieses Umfeld ist es auch, unter dessen Einfluß Ärztinnen und Ärzte selbst ihre Zielvorstellungen zum Beruf entwickeln. Frustrationen auf beiden Seiten scheinen hierbei unvermeidlich, denn die idealen Arbeits- und Wirkungsbedingungen finden sich für Ärztinnen und Ärzte bekanntlich nur selten (10,15), zumal die Erwartungen und Phantasien hier häufig das Menschenmögliche übersteigen. Unrealistisch hohe und perfektionierte Ideale, die kaum einen Fehler dulden und damit auch eine persönliche und berufliche Entwicklung erschweren, stehen bei Ärztinnen und Ärzten daher häufig in engem Zusammenhang mit beruflicher Erschöpfung (3). Das eindrückliche Bild des verwundeten Arztes, dessen eigenes Leiden ihn erst zum erforderlichen Einsatz befähigt, wie es sich schon in der griechischen Mythologie findet (4), wird schon seit längerem in unterschiedlicher Weise (6,19) zum Verständnis dieser Problematik in Anspruch genommen. Im folgenden soll nun ein Teil der von uns untersuchten Aspekte des Arztideals aus Sicht der Ärztinnen und Ärzte näher betrachtet werden.

Methode der Befragung

33 niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, 11 Frauen und 22 Männer, wurden unter Anwendung halbstrukturierter Interviews befragt. Die Stichprobe stellte die gesamte mittelhessischen Kleinstadt dar. Die Teilnehmerquote betrug über 80 %. Verzerrung aufgrund einer Stichprobenselektivität sind von daher also kaum zu erwarten. Die mitgeschnittenen Aufzeichnungen wurden nach Mayring (11) inhaltsanalytisch ausgewertet und die Ergebnisse von zwei unabhängigen Ratern mit einer Übereinstimmung von 90% überprüft. Um mögliche Unterschiede in Abhängigkeit von der Dauer der Berufstätigkeit bei primarärztlich Tätigen herausarbeiten zu können, wurde die Darstellung zusätzlich auf drei Gruppen (A,B und C) mit unterschiedlich langer Berufserfahrung fokussiert. Alle in der Primärversorgung tätigen Allgemeinärzte, Internisten und Pädiater unter den befragten Ärztinnen und Ärzte mit entsprechender Dauer der Berufstätigkeit fanden dabei Eingang in die jeweiligen Untergruppen (Tabelle).

Arztideale der Allgemeinbevölkerung

Am Beginn jedes Interviews stand die Frage nach der Wahrnehmung der Arztideale der Allgemeinbevölkerung (Abb.1). Dabei zeigt sich das Bild des allzeit bereiten, aufopferungsvollen und jederzeit verfügbaren Arztes deutlich im Mittelpunkt. Über drei Viertel der Gesamtgruppe der Befragten verspüren und nennen eine derartige Anforderung durch ihre Patienten. In den drei Untergruppen der Befragten, die in der Primärversorgung tätig sind, nehmen ausnahmslos alle, unabhängig vom Alter, diese Idealvorstellung in der Befölkerung wahr. Die Vorstellung, so wie die Ärztinnen und Ärzte sie einschätzen, erscheinen demnach in erster Linie als Erwartungen an ihre Leistungsfähigkeit. Dabei sind besonders bedeutsam: das Ideal “allzeit bereit” zu sein, die Fähigkeit und die Zeit für “Zuwendung” und eine hohe medizinische “Kompetenz” im allgemeinen. Diese häufig mit persönlichen Bedürfnissen konfligierenden eigenen und fremden Idealvorstellungen in Form der Forderung nach ständiger Leistungsbereitschaft haben zur Folge, daß sich Ärzte gar nicht selten als Gegner des Patienten im Ringen um Ruhe und Eigenständigkeit wahrnehmen. Bemerkenswert ist daneben auch der beträchtliche Stellenwert, der dem guten Erscheinungsbild der Ärztin oder des Arztes zugemessen wird und die vermeindliche Einstellung der Patienten, die Medizin stelle eine Art Dienstleistungsbetrieb dar, der vor allem ihrer Wunscherfüllung diene.

Ideale zum Leben als Arzt

Besondere Bedeutung wird bei den Antworten auf die Frage nach den Vorstellungen zum idealen Lebensstil als Arzt dem Wunsch nach ausreichenden Zeiträumen, beruflich oder privat, zugemessen (Abb.2). Ausdrücklich benannten diese Vorstellung etwas mehr als die Hälfte der Befragten, am häufigsten jedoch die Ärztinnen und Ärzte am Anfang ihrer beruflichen Laufbahn. Die Gruppe mit der längsten Berufserfahrung beschreibt dagegen häufiger das mehr handlungsorientierte Ideal, Grenzen setzen zu können. Für diese Gruppe stellt sich auch das persönliche Wohlbefinden oder die persönliche Entwicklung als Ideal bedeutender dar als für die Ärztinnen und Ärzte mit geringerer Dauer der Berufstätigkeit, bei denen dann z. B. die finanzielle Sicherheit oder auch die umfassende Patientenversorgung eine wichtige Rolle spielt.

Der ideale Arzt

Die Vorstellung vom ideal guten Arzt weichen in den drei Gruppen zum Teil deutlich ab (Abb.3). In der von der Gesamtgruppe der Ärztinnen und Ärzten am häufigsten genannten Kategorien der “Kompetenz in Diagnostik und Therapie” überwiegt klar der Anteil der Ärztinnen und Ärzten mit der geringsten Berufserfahrung. Dagegen betonen die etwas länger Tätigen der mittleren Gruppe den besonderen Einsatz für den Patienten, die persönliche Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft des Arztes. Die am längsten tätigen Ärzte nennen als ihr Ideal am häufigsten die menschliche Zuwendung. Auch die Idealvorstellung einer partnerschaftlichen Arzt -Patient – Beziehung wird von diesen am meisten beschrieben.

Ideale entsprechen den Erwartungen

Das Idealbild der Befragten Ärztinnen und Ärzten stimmt hier weitgehend überein mit dem als Erwartung der Patienten empfundenen klassischen Rollenstereotyp der Gesellschaft. Diesem entsprechen auch die zur Berufswahl motivierenden bewußten und unbewußten Faktoren (6,18,19).Primär können sich diese idealen Erwartungen zwar im Hinblick auf bestimmte Persönlichkeitsmerkmale bestärkend auswirken, aufgrund häufig mangelnder Umsetzbarkeit und im Falle einer besonders rigiden Bemühung um Verwirklichung werden sie jedoch auch häufig destruktive Folgen haben.

Idealbild: Kompetent, engagiert und verständnisvoll

Im Mittelpunkt dieser Idealvorstellungen steht die Trias Einsatzbereitschaft, Kompetenz und die gelungene Beziehung zum Patienten, also das Idealbild des kompetenten, engagierten und verständnisvollen Arztes. Die Ärztinnen und Ärzte nehmen dies sowohl als Idealvorstellung der Allgemeinbevölkerung als auch als eigenes Arztideal wahr. Bemerkenswert ist hierbei die Übereinstimmung der Ärztinnen und Ärzte in der Überzeugung, die Bevölkerung erwartet von ihnen vor allem, allzeit bereit für sie zu sein. Dies stellt hier einen zentralen Problempunkt dar, dem jedoch in der aktuellen Diskussion in bezug auf Lebensqualität und Gesundheit von Ärztinnen und Ärzten noch relativ wenig Beachtung geschenkt wird (2,14).

Wunsch nach mehr zeitlicher Autonomie

Deutlich wird weiterhin der Wunsch der Ärztinnen und Ärzte, Zeit selbstbestimmt einteilen zu können und unabhängiger von äußeren Zwängen zu sein. Diese Vorstellung steht jedoch in deutlichem Konflikt einerseits mit dem eigenen, sehr fordernden und beanspruchenden Arztideal sowie der Einschätzung der Erwartung der Patienten, und andererseits mit den wirtschaftlichen Zwängen und berufspolitischen Reglementierungen. Ärztinnen und Ärzte mit größerer Berufserfahrung scheinen den dargestellten Ergebnissen zufolge durch diese Zwänge weniger stark belastet zu sein als ihre Kolleginnen und Kollegen mit geringerer Dauer der Berufstätigkeit. Dies überrascht angesichts der zumeist stabileren wirtschaftlichen Verhältnisse dieser Gruppen kaum, jedoch fällt darüber hinaus auf, daß von diesen dem starren Arztideal verstärkt eigene Einstellungen und Theorien sowie konkrete Zielvorstellungen entgegengehalten werden. Persönliche Bedürfnisse und Interessen sowie zwischenmenschliche Aspekte werden stärker in den Mittelpunkt gestellt und so womöglich den Belastungen des Arztberufes erfolgreicher begegnet.

Kompetenz, Einsatzbereitschaft und Beziehungsfähigkeit

Erwartungsgemäß sind Unterschiede in bezug auf persönliche Idealvorstellungen zum Arztberuf in Abhängigkeit von Dauer der Berufstätigkeit zum Teil sehr deutlich festzustellen: Sowohl das in der Gruppe der Ärztinnen und Ärzte mit geringster Berufserfahrung im Vordergrund stehende Ideal, medizinisch kompetent zu sein, als auch die in der mittleren Gruppe verstärkt betonte Idealvorstellung des hohen Einsatzes für den Patienten werden von einer vermehrten Hinwendung zu den interpersonalen Aspekten medizinischer Tätigkeit, wie z. B. Arzt – Patient – Beziehung, Kommunikation oder Bedeutung der eigenen Persönlichkeit, bei Ärztinnen und Ärzten mit längerer Berufstätigkeitsdauer abgelöst. Darüber hinaus wird von diesen Ärzten die Bedeutung des eigenen Wohlbefindens, der eigenen Entwicklung und der Förderung persönlicher Interessen deutlich höher eingeschätzt. Eine Deutung, die diese Entwicklung auf eine oder weniger bewußte Problemanalyse der Ärztinnen und Ärzte im Laufe ihrer Berufstätigkeit zurückführt, liegt nahe. In welchem Maße bei diesen Befunden aber auch die unterschiedliche wirtschaftliche Situation Einfluß nimmt, oder inwieweit sich der Zeitgeist der jeweiligen Generation in den genannten Idealen widerspiegelt, bleibt hier offen. Um die differenzieren zu können, sind weitere Untersuchungen erforderlich. Dabei wäre auch der Einfluß der dargestellten Idealvorstellungen auf die Lebensqualität und die Berufszufriedenheit näher zu prüfen.

Erfahrene Ärzte mit hilfreichen Idealen

Die dargestellten Ergebnisse zeigen, daß die befragten Ärztinnen und Ärzte mit längerer Berufserfahrung zum Zeitpunkt der Untersuchung häufiger als ihre Kolleginnen und Kollegen solche Idealvorstellungen zum Arztberuf formulieren, die in der Literatur (8,13, 18) und nach eigener kritischer Betrachtung der Ergebnisse als geeignet eingeschätzt werden. Beeinträchtigungen durch die hohe Belastungen in ihrem Beruf abzuwehren. Angesichts der Bedeutung, die individuelle Idealvorstellung, Theorien und Einstellungen, zum Arztberuf letztlich auch für das Befinden des Arztes haben, können diesbezügliche Erfahrungen und Erkenntnisse den Ärztinnen und Ärzten wohl kaum frühzeitig genug vermittelt werden. Die Wertschätzung und Unterstützung eigener Theorien und Einstellungen zur ärztlichen Tätigkeit sowie die frühe Anregung zu Überlegungen und Gesprächen, die über medizinisch fachliche Themen hinausgehen, können persönliche Empfindungen, Erfolge, Probleme oder Ideale vermitteln helfen. Als Ziel kann die Entwicklung weniger starrer Idealvorstellungen und notwendiger Umorientierungen im Hinblick auf die Erwartungen an die eigene Person im Beruf schon zu Beginn der Berufstätigkeit gelten (3,18). Besonders in dieser Arbeit deutlich erkennbare Unterschied der Generationen in ihren Idealvorstellungen, sei er auf Berufserfahrung oder unterschiedliche Wertsysteme zurückzuführen, wird sich dabei im Austausch als wertvoll und nützlich erwiesen. Der offenbar nicht selten problematische Erfahrungsprozeß, der, wenn er gelingt, zu angemesseneren, der Lebensqualität förderlichen Idealvorstellungen führt, könnte auf diese Weise erleichtert werden.

” Man muß ja total viel, um diesen Erwartungen der Bevölkerung entgegenzukommen, ständig da zu sein, auch am Wochenende, und wir wohnen auch noch hier in dem Dorf oben am Marktplatz, da kommen die dann auf den Hof oder wenn der Hof abgeschlossen ist, dann kommen sie hinten durch den Garten, und die können dann irgendwie – also die sind dann beleidigt, wenn man sie muffig behandelt. Also man schwebt dann immer so zwischen Größenwahn, daß man alles beherrscht, und irgendwie dem Zustand, daß man bei der Bevölkerung völlig unten durch ist.” (Arzt,43)

” Ein toter Arzt ist ein schlechter als gar kein Arzt. Das heißt also, es muß auch mal so sein, daß ich auch andere Bereiche von mir fördere, denn wenn ich nur noch Medizin mache, wenn ich nur noch meinen Beruf stecke, dann werde ich mit der Zeit verarmen und werde mich kaputt machen und werde dann auch meinen Patienten im Grunde genommen kein guter Ratgeber mehr sein.” (Arzt 43)

” Daß er sich in seinem Fachgebiet auskennt, kompetente Diagnosen erstellt und adäquat behandelt.” (Arzt 35)

” Daß ich eben, wie gesagt, Leuten helfen könnte oder Patienten helfen könnte – und auch in schweren Situationen helfen können, oder auch im Extremfall auch in lebensbedrohlichen Situationen.” (Arzt 53)

” Ja, vor allen Dingen muß man mit den Leuten kommunizieren können. Es geht nicht an, nur ein guter Techniker zu sein (…).” ( Arzt 56)

Harald B. Jurkat, Christian Reimer und Christian G. Plewnia

Literatur über Kirchheim-Verlag
Dipl.-Psych. Harald B. Jurkat
Prof. Dr. med. Christian Reimer
Dr. med. Christian Plewnia
Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie
der Justus-Liebig-Universität Gießen
Friedrichstraße 33, 35385

Der Allgemeinarzt 11/1999