Wirtschaftlichkeit oder Lebensqualität?

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Wirtschaftlichkeit oder Lebensqualität?Das Krankenhaus im Spannungsfeld zwischen Ökonomie und dem Anspruch an eine „ganzheitliche“ Medizin.
In den nächsten 10 Jahren wird es – so schätzen Gesundheitsökonomen -alleine durch die zunehmende Lebenserwartung, die damit verbundene Multimorbidität, frühere Diagnostik und dadurch vermehrte Heilungen mit Langzeitüberleben zu einer Verdopplung der Kosten im Gesundheitswesen kommen. Durch die veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen und deren Auswirkungen auf die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme -insbesondere der Gesetzlichen Krankenversicherungen – haben sich die Verhältnisse im deutschen Gesundheitswesen grundlegend und auf Dauer verändert: Es geht nicht mehr um einen weiteren Ausbau des Versorgungssystems, sondern um den Umbau durch Budgetierung, Umschichtung, Ressourcenverlagerung und Strukturwandel. Krankenhäuser müssen nach den Prinzipien moderner Unternehmensführung geführt werden und betriebswirtschaftliche Instrumentarien nutzen, um eine wirtschaftliche Leistungserbringung und weitestgehende Kostenreduzierung zu ermöglichen. Aber was bedeutet diese Entwicklung für die Qualität der medizinischen Versorgung, das von vielen immer wieder angesprochene „Wohl des Patienten“? Verkommen unsere Kliniken nicht zu „kranken Häusern“, in denen kranke Körper behandelt werden, aber die Menschen, deren seelisches Erleben und psychosoziale Erfordernisse eine zunehmend geringere Rolle spielen? Wird die in den letzten Jahren immer häufiger beschworene Zielgröße „Lebensqualität“ überhaupt noch eine Zukunft haben?

Diese Frage soll schlaglichtartig an zwei Beispielen beleuchtet werden: den psychologischen Begleiterscheinungen von Krebserkrankungen sowie den Einschränkungen des Körperbildes und der Sexualität als Folge zahlreicher Krankheiten und deren notwendig werdender Behandlung.

In Deutschland erkranken jedes Jahr mehr als 330 000 Menschen an Krebs. Die medizinische Grundlagenforschung hat eine Fülle neuer Erkenntnisse zur Entstehung, Erkennung und Behandlung bösartiger Geschwülste gewonnen. Veränderte Operationstechniken, der Einsatz neu entwickelter pharmakologischer Substanzen und computerunterstützte Techniken der Strahlentherapie bewirken langsame, aber stetige Fortschritte in der Therapie onkologischer Erkrankungen. Wenn nach der WHO-Definition Gesundheit als Zustand „körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens“ beschrieben wird, kann aber Krebs nicht als ein rein körperliches Geschehen verstanden und behandelt werden. Eine „ganzheitliche“ Krebsbehandlung – wie sie von vielen Patienten und deren Angehörigen gefordert wird – umfaßt deshalb nicht nur eine adäquate und qualitativ hochwertige medizinische Versorgung, sondern ebenso die Berücksichtigung relevanter psychosozialer Aspekte.

Befragt man die Betroffenen nach ihren Erwartungen an die Behandelnden, so werden häufig folgende Aspekte genannt:

  • eine ausreichende Vermittlung von Informationen über die Erkrankung, ihre medizinische Behandlung und Prognose. Viele Patienten klagen dar über, daß ihre behandelnden Ärzte zu wenig Zeit hätten, sie umfassend aufzuklären oder sich auf ein längeres Gespräch einzulassen.
  • Beistand bei den unausweichlich auftauchenden Ängsten, Gefühlen von Machtlosigkeit und des Ausgeliefertseins.
  • die Vermittlung von Krankheitsbewältigungsstrategien: wie werde ich mit den krankheitsbedingten Belastungen fertig, wie gehe ich mit meinen Ängsten um?
  • Aktivierung persönlichkeitsbedingter und sozialer Ressourcen, um dadurch einen stabilen Rückhalt entwickeln zu können, z. B. durch das Angebot der Kontaktvermittlung zu einer Selbsthilfegruppe bereits während des Klinikaufenthaltes.
  • Beratung über Möglichkeiten, wie der Krebskranke selbst etwas zur Bekämpfung seiner Erkrankung beitragen kann. Ein Beispiel dafür ist die z. T. unkritische Inanspruchnahme unkonventioneller Heilverfahren wie die Misteltherapie, die Substitution von Vitaminen und Spurenelementen oder Thymuspräparaten. Sie ist vor allem als Ausdruck des Wunsches zu verstehen, nicht nur behandelt zu werden, sondern selbst etwas tun zu können, um der Krebserkrankung Einhalt zu gebieten. Durch die bisher vollkommen unzureichende individuelle Beratung oder pauschale Ablehnung dieser Therapieverfahren geraten Patienten jedoch in die Gefahr, unseriösen Anbietern mit ihren zum Teil kostenintensiven „alternativen Heilmethoden“ aufzusitzen.
  • Einbeziehung der Familien in das Behandlungskonzept – aber auch das Angebot ihrer Unterstützung: Viel zu selten werde gesehen, daß die Krebserkankung nicht nur den Patienten, sondern natürlich auch dessen Familie belaste.
  • Angebot einer Möglichkeit, sich mit der „Sinnfrage“ der Erkrankung auseinanderzusetzen: Warum bin gerade ich krank geworden? Wie wird die Erkrankung mein Leben, meine Ziele und Perspektiven verändern? Wie nutze ich die mir verbleibende Lebenszeit – ganz gleich, wie lange sie noch sein mag?

Der Frage nach der Lebensqualität sowie zunehmende Kenntnisse über die Bedeutung psychosozialer Faktoren für den Krankheits- und Rehabilitationsverlauf stehen jedoch zunehmend enger werdende ökonmischen Rahmenbedingungen gegenüber. Der von Patienten und deren Angehörigen immer wieder zu hörende Wunsch nach einer „ganzheitlichen“ Medizin, die körperliche und seelische Aspekte in gleicher Weise berücksichtigt, wird durch das Wirtschaftlichkeitsgebot immer mehr bedroht. Dazu haben sich zwischen die Patienten und die behandelnden in den letzten Jahrzehnten immer mehr die Folgen des technischen Fortschritts geschoben. Ärzte und Pflegende sind zunehmend mit den technischen Aspekten der Behandlung befaßt und es bleibt immer weniger Zeit, um sich den Patienten persönlich zuzuwenden. Psychologische Dienste – die diese Defizite zum Teil kompensieren könnten – existieren nur an wenigen Kliniken; so verfügen von den circa 60 Tumorzentren in der Bundesrepublik Deutschland nur 16 über eine eigene psychosoziale Beratungsstelle. In kleineren Krankenhäusern besteht häufig nur das Angebot eines psychiatrischen Konsiliardienstes, der im Fall der Entwicklung schwerwiegender depressiver Symptome oder bei Suizidgefahr gerufen wird und häufig lediglich eine medikamentöse Behandlungsempfehlung gibt. Es geht jedoch nicht nur darum, den Patienten am Leben, sondern ihn auch im Leben zu erhalten.

Krebserkrankungen sind auch ein gutes Beispiel für das in der Einleitung genannte zweite Problemfeld: die krankheitsbedingten Störungen des Körperbildes und der Sexualität. Sie können als Begleit- und/oder Folgeerscheinung vieler Erkrankungen auftreten und bedeuten für die Betroffenen oft eine erhebliche Einbuße an Lebensqualität, Selbstwertgefühl und Zufriedenheit in der Partnerbeziehung. Je nach Krankheitsbild spielen dabei körperliche und/oder psychosoziale Faktoren eine Rolle. So können durch einen operativen Eingriff sexuelle Funktionen wie die Erektionsfähigkeit eingeschränkt werden (z. B. nach radikaler Prostatektomie) oder Körperbildstörungen verursacht werden (z. B. durch die Entfernung einer Brust oder die Anlage eines künstlichen Darmausganges).

In vielen Fällen kommt es zu einer sich ergänzenden Wechselwirkung zwischen körperlichen und seelischen Faktoren. Dies illustriert das folgende Fallbeispiel:

Einer 45jährigen Frau muß wegen eines Karzinoms die rechte Brust entfernt werden. Wie sie später in einem Beratungsgespräch berichtet, habe sie sich nach der Operation nicht mehr als begehrenswerte Frau gefühlt. Wegen der damit verbundenen tiefgreifenden Verunsicherung habe sie nach der Entlassung aus dem Krankenhaus auch nicht zärtlich auf ihren Mann zugehen können. Dieser habe sich umgekehrt abwartend verhalten, um sie zu schonen und ihr Zeit zu lassen.

Da jedoch beiden Partnern eine offene Aussprache über dieses Thema schwergefallen sei, habe sie sein Verhalten nicht richtig einordnen können und es als Rückzug interpretiert: „Ich dachte, er begehrt mich nicht mehr!“ In der Folge sei sie zunehmend depressiver geworden; dadurch sei auch ihre zuvor intakte Ehe in eine schwere Krise geraten. Ein gemeinsames Gespräch mit beiden Partnern noch vor der Entlassung aus der Klinik hätte vielleicht dazu beitragen können, diese Entwicklung zu verhindern. Es bedarf in der Mehrzahl der Fälle keiner jahrelangen psychotherapeutischen oder sexualtherapeutischen Behandlung, um wirkungsvolle Hilfe leisten zu können! Bei das Körperbild verändernden Therapiemaßnahmen muß die Möglichkeit einer seelischen Auseinandersetzung und Trauerarbeit noch vor dem geplanten Eingriff eröffnet werden, also z. B. durch die nochmalige Entlassung aus der Klinik, um sich von dem erkrankten Körperteil innerlich lösen und „verabschieden“ zu können. Durch die immer kürzer werdende Verweildauer der Patienten im Krankenhaus (1995: 12,1 Tage) werden die Betroffenen jedoch immer häufiger von dem Geschehen „überrollt“ und damit in ihren seelischen Bewältigungsmöglichkeiten überfordert. Die Folgen werden häufig im Krankenhaus nicht spürbar, machen sich aber nach der Entlassung aus der Klinik durch depressive Verstimmungen, Schlafstörungen und andere Symptome bemerkbar.

Zu einer patientengerechten Versorgung im Krankenhaus gehört das Angebot einer sexualmedizinischen Beratung, wenn sexuelle Funktionen oder das Körperbild durch die Erkrankung oder geplante Therapiemaßnahmen beeinträchtigt werden. Bereits die Möglichkeit einer offenen Aussprache oder begrenzte Informationen durch das Klinikpersonal können dazu beitragen, die Entwicklung schwerwiegender sexueller Probleme zu begrenzen oder es den Betroffenen ermöglichen, ambulante Hilfen in Anspruch zu nehmen. Frühzeitige Informationen beugen dabei in vielen Fällen der Entstehung chronifizierter sexueller Störungen mit einer nur noch schwer zu unterbrechenden Eigendynamik (z. B. zunehmendes Vermeidungsverhalten) vor! Die häufig zu beobachtende „Sprachlosigkeit“ zwischen vielen Paaren stellt ein zusätzliches Problem dar; indem bereits im Krankenhaus der Partner so früh und so oft wie möglich in die Beratungsgespräche mit einbezogen wird, wird eine offene Kommunikation zwischen beiden ermöglicht.

Fazit: Ein „humanes“ Krankenhaus, ein ganzheitlicher Behandlungsansatz und die Berücksichtigung der Lebensqualität sind nicht nur möglich, sondern ein notwendiger Bestandteil qualifizierter medizinischer Versorgung. Sie ergeben sich jedoch nicht von alleine als ein „Nebenprodukt“ der Beziehung zwischen Ärzten, Pflegenden und ihren Patienten. Sie sind nur durch eine qualifizierte Aus- und Weiterbildung der Mitarbeiter in medizinischer Psychologie und psychosomatischer Medizin zu erreichen und müssen beim Personal- und Zeitmanagement gezielt mit eingeplant werden. Ein hilfreiches Gespräch braucht Zeit und das „offene Ohr“ eines Behandelnden, der sich durch den Wunsch des Patienten nach psychosozialer Unterstützung nicht nur belästigt fühlt, weil dadurch andere dienstliche Aufgaben und Belange beeinträchtigt werden.

Das Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Lebensqualität ist vor allem durch die Herausforderung gekennzeichnet, in einem Suchprozess mit allen Beteiligten herauszufinden, was unsere Krankenhäuser zum Wohle der Betroffenen leisten können, wie eine angemessene psychosoziale Unterstützung am effizientesten organisiert und die dafür erforderlichen Finanzmittel aufgebracht werden können. Der Kostendruck im Gesundheitswesen darf nicht dazu führen, daß der Anspruch auf eine qualitativ hochwertige Versorgung der Patienten – gerade auch im psychosozialen Bereich – zunehmend verwässert wird.

Dipl.-Psych. Dipl.-Biol. Stefan Zettl

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