Berufliche Auslöser für Ärztesuizide

Was ist Ärztegesundheit? | Sucht | Stress | Ehen | Depression-Suizid | Behandlung | Start | Arztpersönlichkeit und Arztideal | Sexuelle Übergriffe | Der kranke Arzt | Lebensqualität | Alter | Tod und Sterben | Ärzte unter Anklage | Ärztinnen | Trauma und Gewalt | Finanzen | Selbstversuche | Fitness |

Berufliche Auslöser von Suiziden bei Ärzten
Unabhängig vom Vorliegen einer psychischen Krankheit, die Erleben und Beurteilen der eigenen Situation für einen Arzt/eine Ärztin zusätzlich zum ungünstigen verändert, gibt es im beruflichen Umfeld Auslöser für eine suizidale Handlung. Zu vielfältig sind Belastungen, Überlastungen, Ausbeutung, Bloßstellungen in der Fach- und allgemeinen Öffentlichkeit sowie finanzielle und partnerschaftliche Katastrophen, die Ärzte treffen können, um sie hier alle zu berücksichtigen. So seien wieder nur einige Beispiele pars pro toto angeführt (siehe Tabelle II).

Tabelle II Berufliche Auslöser für Ärztesuizide

· Mobbing
· Kunstfehlervorwurf,
· Vorwurf von Wissenschaftsfälschung
· Verlust des Berufes aus politischen u.a. Gründen
· finanzielle Notlage in Klinik oder Praxis
· Krisen in der akademischen Karriere

Mobbing- Das systematische Ausgrenzen, Bloßstellen und kritisieren von Kollegen ist leider keine Seltenheit (Flintrop, 2001). Im günstigen Fall läßt sich der/die Betroffene nicht auf einen Machtkampf ein, findet eine neue Stelle und kann seine Ausbildung weiter machen. Im ungünstigen Fall kommt es zu einem Kampf, der nach und nach immer mehr an Kraft kostet, die Gedanken, Kräfte und Freizeit völlig okkupiert und das Selbstwertgefühl bedrohlich unterminiert. Bei entsprechender Zuspitzung scheint ein Suizid subjektiv die einzige Methode, sich zu wehren, vielleicht auch so zurückzuschlagen, daß es den anderen, dem Chef, den Kollegen leid tut. Hier verbinden sich Gegenaggression, Bestrafung der Vorgesetzten, die Phantasie der Reue am Grab zu dem, was Kind kürzlich Kränkungs- bzw. Beschämungssuizidalität genannt hat (Kind, 2000). Hierzu zwei Beispiele: ein junger Assistenzarzt mit hohem Ehrgeiz ist in seiner Abteilung sehr geschätzt und beliebt; von seinem Chef wird er deutlich gefördert. Nachdem er in einer Konferenz den Chef etwas hart kritisiert “fällt er in Ungnade”. Bei jeder Besprechung werden seine Leistungen kritisiert, Fehler gefunden und konstruiert. Die Teamkollegen gehen auf Abstand. Schließlich eskaliert es zur Suizidhandlung: Im Dienst und im weißen Kittel versetzt es sich die tödliche Injektion i.m. Nur weil ein zufällig vorbei gehender Mitarbeiter das Geräusch des Umfallens hört, wird er gerettet. Während dieser Vorfall Krankenhaus intern geregelt wird, ereignet sich der nachfolgende in breiter Öffentlichkeit:
Nachdem sie elf Jahre lang in Penzing als Fliegerärztin gedient und hervorragende Zeugnisse bekommen hatte, wurde der Fliegerärztin Dr. Bauer plötzlich vorgeworfen, sie gefährde die Flugsicherheit und die Patienten. Ihre Räume werden durchsucht und sie wird -gegen ihren Willen- versetzt. Sie sieht keinen Ausweg, schreibt einen Abschiedsbrief und bittet ihre Freunde, die Presse zu informieren. Am 17.9.99 nimmt sie eine letale Dosis verschiedener Medikamente, überlebt, aber liegt mit irreparablem Hirnschaden über zwei Jahre im Koma, bevor sie stirbt. Der Vorfall hat ein breites Medienecho, das Verhalten der Vorgesetzten wird sehr kritisch beleuchtet.
Kunstfehlervorwurf- Der ungünstige Verlauf einer ärztlichen Behandlung, kann jeden treffen. Oft genug macht man sich selber Vorwürfe. So wie beim Schweizer Arzt Dr. Sartorius, der bei seinem eigenen Sohn eine Meningitis übersehen und durch eigenen ständige Schuldvorwurf an den Rand des Suizids geriet (Sartorius 87). Überhaupt scheinen Kunstfehler bei Kindern den involvierten Kollegen/innen außerordentlich nachzugehen und bei einigen suizidauslösend zu sein . In zunehmender Zahl kommen die Anklagen jedoch auch von anderen – geschädigten Patienten oder Angehörigen, Presse oder Anwalt. Damit steht sehr viel auf dem Spiel- der eigene Ruf, das weitere berufliche Schicksal, finanzielle oder strafrechtliche Sanktionen. In dieser Situation genügen dann Kleinigkeiten, um den beschuldigten Kollegen/innen, jede Hoffnung zu nehmen. Natürlich hängt es stark von der einzelnen Persönlichkeit, dem Rückhalt bei Familien und Freunden ab, ob und wie man dies übersteht.
Suizidale Handlungen in dieser Situation kommen immer wieder vor. So ertränkte sich der Wiener Arzt Dr. Spitzer 1884 in der Donau angesichts eines ihm öffentlich vorgeworfenen Kunstfehlers, obwohl ein Gutachten der medizinischen Fakultät sein ärztliches Handeln als korrekt bezeichnete (Weressajew- Bekenntnisse eines Arztes). Großes Aufsehen erregte der Fall des Essener Pathologen Josef Kemnitz. Er verbrannte sich im Juni 1997 in seinem Labor, nachdem ihn ca. 160 Frauen wegen grober Diagnosefehler angezeigt hatten. Selten kombinieren sich auch Suizid und Kunstfehlervorwurf wie beim Tod des Charité Professors für Psychiatrie Helmut Kovalic. Er hatte im Dezember 92 einen Suizidversuch mittels einer Intoxikation unternommen, wurde dann in ein Berliner Krankenhaus gebracht. Wohl weil man es versäumte ihm rechtzeitig den Magen auszupumpen und das Gift weiter resorbiert wurde kam es dann am Folgetage zum Herzstillstand. Gegen zwei beteiligte Ärzte erfolgte eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung.
Vorwurf von Wissenschaftsfälschung- Auch hier gibt es eine ganze Reihe von gravierenden Fällen. Natürlich ist ein solches Delikt keine Bagatelle, mir scheint aber, daß zu oft nur nach einem reinen schwarz weiß Denken vorgegangen und vor-verurteilt wird. Für die Betroffenen bricht alles zusammen, entsprechend kommen suizidale Reaktionen vor. So schrieb Professor Kammerer, Wien , 1926 unmittelbar vor seinem Suicidium: “Ich sehe mich außerstande diese Vereitlung meiner Lebenskraft zu ertragen” (Grotjahn, 1929).
Verlust des Berufes aus politischen Gründen- Dieses Suizidmotiv kommt in normalen Zeiten kaum vor, wohl aber in Zeiten politischen Umbruchs. So wurden im dritten Reich jüdischen Ärzten alle Titel aberkannt, die Approbation wiederrufen und viele zur Emigration gezwungen. Von den zahlreichen durch das 3. Reich verfolgten jüdischen Ärzten und Ärztinnen starben wenigstens 6 Ärztinnen durch Suizid (Bleker- 2000). Vermutlich ist von wesentlich mehr Selbsttötungen jüdischer Ärzte auszugehen. So fand A. Scholz allein für das Fach der Dermatologie über 9 jüdische Dermatologen, deren Suizid dokumentiert ist (Scholz 1997) . Nach dem Ende des 2. Weltkriegs suizidierten sich entsprechend einige Ärzte, die von 1933-45 Entscheidungsträger waren, u.a. der Reichsgesundheitsführer L. Conti sowie der oberste SS Arzt E. Grawitz (Benzenhöfer 1996), Aus neuerer Zeit ist der Fall Prof. Eckard Ulrich zu nennen. Der Internist aus Halle suizidierte sich angesichts der Demütigung und
Verletzung seiner Überprüfung als Hochschullehrer nach dem Zusammenbruch der DDR (Hecht 2000).
Finanzielle Notlage in Klinik oder Praxis- Leider ist auch dies kein seltenes Suizidmotiv, ja angesichts der finanziellen Schräglage mancher Kassenarztpraxen könnte es hier zu einer Zunahme kommen. Zumindest höre ich entsprechende Bemerkungen von Kollegen in meiner Praxis in letzter Zeit häufiger. Auch wenn viele Kollegen nach einer Pleite durchaus wieder auf die Beine kommen, die Zeit bis dahin ist subjektiv die Hölle. Gerichtsvollzieher, Schuldenspirale, Schuldner die am hellichten Tag in die Praxis kommen und Geld einfordern, die Erkenntnis, daß angesichts gedeckelter Budgets auch durch noch so viel Arbeit das geschuldete Geld nie hereinkommt, kann einen Arzt stark zermürben. So erschoß sich der berühmte Herzchirurg Rene Favaloro, Erfinder der Bypass Operation und Kandidat für den Nobelpreis, im Juli 2000 in Argentinien. In seinem Abschiedsbrief schrieb er, daß die hohen Schulden ihn erdrückt hätten “Ich bin es leid immer nur zu kämpfen und zu kämpfen” (Ärztezeitung, 2000). Vor einigen Jahren hatte ein niedergelassener Kollege aus Bielefeld – mit sehr fragwürdigen Methoden seinen Umsatz vergrößert. Angesichts einer hohen Regressdrohung der KV suizidiert er sich.
Krisen in der akademischen Karriere- Der Wettbewerb an Hochschulen ist sehr hart, die Wege bis zur Habilitation verschlungen, der Ehrgeiz der Ärzte hoch, kurzum ein Feld in dem Enttäuschung, Rückschlag und Kränkung so manchen treffen. Selbst die, die eine Professur letztlich bekommen stehen unter vielfältigem Druck, und auch die Emeritierung kann noch einiges an Härte beinhalten. R. Nissen, berühmter Chirurg und Sauerbruchschüler, berichtet von einem habilitierten Kollegen der Berliner Fakultät, der sich suizidierte weil es mit der Karriere nicht klappte. Selbst bekannte Hochschullehrer sind betroffen, etwa der wegen seiner Verdienste geadelte Hygieniker von Pettenkofer, München, oder Hans Berger, der Erfinder des EEG, die sich beide nach der Emeritierung suizidierten ; Pirquet, der die Tuberkulinreaktion entdeckte oder Giese, einer der Wegbereiter moderner Sexualmedizin; außerdem der psychiatrische Chefarzt an der Charité Helmut Kovalic, der 1992 eine Überdosis an Schlafmitteln einnahm. Auch der akademische Streit um den Ruhm einer Erstentdeckung kennt manche bedrohliche Zuspitzung wie z.B. bei Ignaz Semmelweiss und gelegentliche suizidale Handlungen wie bei Horace Wells, der 1844 die erste Zahnextraction unter Lachgasnarkose am Harvard Medical College vornahm. Kurz darauf demonstrierte T. Morton die Wirkung des Äthers und bald begann die große Anästhesie Kontroverse. Nach vier Jahren akademischen Streits war Horace Wells so zermürbt, daß er sich 1848 im New Yorker Gefängnis das Leben nahm.

 

Anschrift des Autors:

Dr. med. Bernhard Mäulen
Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie
St. Nepomukstraße 1/ 2
78048 Villingen-Schwenningen

Literatur
1. Ärztezeitung vom 7.9. 2000: Ein Selbstmord aus Protest.
2. Bämayr,A.: W. Feuerlein: Suicidhäufigkeit bei Ärzten und Zahnärzten in Oberbayern.
Social Psychiatry 21, 39-48, 1986
3. Baldwin, D.; Rudge, S. (1995) Depression and suicide in doctors. In: Lichtfield P. (Hrsg.)
Health Risks to the Health Care Professional. Royal College of Physicians of London
4. Benzenhöfer, Udo: Nürnberger Ärzteprozess-die Auswahl der Angeklagten. Dt. Ärzteblatt 45, A2929,1996
5. Bergmann, Gustav von: Rückschau. Kindler Verlag, 1953
6. Bleker, J., S. Schleiermacher: Ärztinnen aus dem Kaiserreich. Deutscher Studien Verlag, 2000
7. British Medical Association: The morbidity & mortality of the medical profession. BMA, London 1993
8. Bulgakov, Michail: Arztgeschichten. Luchterhand, Darmstadt, 1972
9. Bürger-Prinz, Hans: Ein Psychiater berichtet. Knaur Verlag, München, 1973
10. Finzen, Asmus: Suizidprophylaxe bei psychischen Störungen,- Prävention. Behandlung,
Bewältigung. Psychiatrie Verlag Bonn 1997
11. Flintrop, Jens: Mobbing im Krankenhaus. Deutsches Ärzteblatt, 98, A742-747, 2001
12. Forßmann, Werner: Selbstversuch- Erinnerungen eines Chirurgen.. Droste Verlag, 1972
13. Gathmann, P.; Semrau, C.: Der verwundete Arzt. Kösel Verlag, München, 1996
14. Gehring, Robert: Suchtrezept- Der Kampf eines drogenabhängigen Arztes. Blaukreuz Verlag Wuppertal, 1987
15. Grellner, Wolfgang, M. Kuknuk; F. Glenewinkel: Zur Suizidmethode von Ärzten, medizinischem Personal und verwandten Berufsgruppen. Archiv für Kriminologie, 201, 65-72, 1998
16. Grotjahn, Alfred: Ärzte als Patienten. Georg Thieme Verlag, 1929
17. Guterson, D.: Östlich der Berge. Berlin Verlag, Berlin 1999
18. Hagan, J.; Richards, J.: In sickness and in Health. Doctors` Health Advisory Service,
Wellington, New Zealand, 1997
19. Hecht, A.: Nichts bleibt wie es ist – die Konsequenzen der deutschen Vereinigung für das
Gesundheitswesen in den Neuen Ländern. In G. Heiß (Hrsg.): Wie krank ist unser
Gesundheitswesen? Merz Verlag, Mainz 2000
20. Hoche, 1934
21. Jamison, Kay R. Meine ruhelose Seele- Geschichte einer manischen Depression. München: Wilhelm Goldmann Verlag 1999
22. Kind, J., T. Giernalczyk: Chronische Suizidalität als Regulativ pathologischer Objektbeziehungen.
Krankenhauspsychiatrie, 11, Sonderheft 2, 102-106, 2000
23. König, Frank: Suizidalität bei Ärzten. Deutsches Ärzteblatt, 98. A-3110-3111, 2001
24. Kuiper, Piet (1995) Seelenfinsternis- Die Depression eines Psychiaters.
Frankfurt: Fischer Verlag
25. Mäulen, B. (1999): Beruf Ärztin- Nicht ohne Nebenwirkungen. MMW-Fortschr. Med. 141, 4-7, 1999
26. Mäulen, B. Wenn Kollegen trinken- Nicht die Augen verschließen. MMW-Fortschr. Med. , 142, 4-10, 2000 a
27. Mäulen, B. : Schwerer Abschied vom weißen Kittel. MMW-Fortschr. Med. 142, 4-10, 2000 b
28. Mäulen, B.: Ärzte – Versager in der Ehe? Münchener Medizinische Wochenschrift, 142,4-8, 2000 c
29. Meixner-Wülker, E.: Angehörige um Suizid- gegen die Mauer des Schweigens. Didot Verlag, Bonn, 1998
30. Moesler, T.A.: Zur Suizidalität bei Ärzten. Nervenheilkunde 12: 128-131, 1994
31. Payk, Theo: Psychiater- Forscher im Labyrinth der Seele. Kohlhammer Verlag Stuttgart, 2000
32. Reimer, C., H. Jurkat, B. Mäulen, F. Stetter: Zur Problematik der Suchtgefährdung von berufstätigen Medizinern. Psychotherapeut 46 , 376-385, 2001
33. Sartorius: Sekunden vor dem Tod. Blaues Kreuz Verlag Wuppertal, 1987
34. Schönberger, Alwin: Patient Arzt- der kranke Stand. Ueberreuter Verlag, Wien 1995
35. Scholz, Albrecht: Der Suizid von Dermatologen in Abhängigkeit von politischen Veränderungen.
Hautarzt 48;929-935, 1997
36. Schultz, J.H.: Lebensbilderbuch eines Nervenarztes. Thieme Verlag,Stuttgart, 1964
37. Shem, Samuel: House of God. Knaur Verlag , TB 1998
38. Silverman, Mortom: Physicians and Suicide. In (Goldman, Larry Hrsg.) The Handbook of physician Health.
American Medical Association, Chikago, 2000
39. Weressajew- Bekenntnisse eines Arztes