Sucht und Seelsorge

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Viele Geistliche kommen in ihrer täglichen Arbeit mit Alkohol in Berührung, sei es dabei Hausbesuchen oder im Anschluss an eine Tauffeier, Beerdigung oder Trauung. Der Pfarrer wird dann als Ehrengast häufig bewirtet, er soll, er muss (?) ein Bier, ein Glas Wein, ein Glas Sekt zu sich nehmen, ansonsten sind die Gemeindemitglieder nicht selten gekränkt.

Aber auch umgekehrt benützt so mancher Geistliche Alkohol als ein Kontaktmittel. Auch früher ergaben sich daraus Probleme: So schildert Charles Dickens (8) einen erheblich alkoholisierten Reverend Stiggins, und Graham Greene beschreibt die Figur des “Schnapspriesters” (14).

Es bat den Eindruck, als wünschen sich zahlreiche Gemeindemitglieder einen Geistlichen, der eine gewisse Trinkfestigkeit aufweist. Wie aber, wenn ans dem anfänglich sozialen Trinken nach und nach ein gewohnheitsmäßiges Zu-sich-Nehmen von Alkohol, wenn der Alkohol in der Folge mehr und mehr als Entlastung bei den vielfältigen Schwierigkeiten des Berufes eingesetzt wird? Nicht selten schlägt dann die öffentliche Meinung um, und man tuschelt hinter vorgehaltener Hand über einen solchen Pfarrer. Früher oder später erfährt es der Kirchenvorstand oder kirchliche Vorgesetzte. H. Harsch zitiert allgemein verbreitete Einstellungen, wenn er zusammenfa6t: ,,Ein Pfarrer darf an Diabetes, Herzinfarkt oder einer Psychose erkranken, aber nicht an Alkoholismus.” (17).

Konsequenterweise umgab das Thema Alkohilismus bei Pfarrern lange Zeit ein Mantel des Schweigens, das Thema wurde tabuisiert. Dies hatte zur Folge, dass es in der gängigen deutschsprachigen Fachliteratur keine eingehenderen Arbeiten zum Thema gibt. Die wenigen verfügbaren Veröffentlichungen sind im wesentlichen von Nichtmedizinern geschrieben, meistens von Theologen (17, 42) oder Sozialarbeitern (28). Daneben gibt es einige Autobiographien von alkoholkranken Geistlichen, die eindrucksvoll die innere Not und das Unvermögen, die eigene Krankheit zu erkennen, widerspiegeln (9, 32, 37). Alle Arbeiten können sich auf keine breite empirische Grundlage stützen oder liefern nur Beschreibungen von Teilaspekten. Auch die vorliegende Arbeit leidet unter diesen Mängeln.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es selbst Experten wie Feuerlein (11) hierzulande nur schwer möglich, genaue Informationen zu erhalten. Dabei ist kirchenintern durchaus der Beginn eines neuen Umgangs mit alkoholkranken Priestern feststellbar. Insbesondere Mitarbeiter in der Personalleitung der Kirchen wurden in Zusammenarbeit mit der Deutschen Hauptstelle für Suchtgefahren – für die Probleme abhängiger Geistlicher sensibilisiert und in speziellen Schulungen für einen verbesserten Umgang mit erkrankten Mitbrüdern vorbereitet.(I, 19).

Wieviele Geistliche sind abhängig?

Zur Frage, wieviele Geistliche abhängig sind, lä8t sich derzeit keine genaue, statistisch relevante Angabe machen. Schätzungen erscheinen jedoch möglich. Laut statistischem Jahrbuch von 1986 gab es ca. 16700 aktive evangelische Pfarrer sowie etwa 23800 katholische Priester (davon ca. 25% Ordensgeistliche). Nach den Feststellungen der Deutschen Hauptstelle gegen Suchtgefahren muss allgemein im betrieblichen Bereich mit ca. 5% alkoholkranken Mitarbeitern gerechnet werden. Die Berufsarbeit Geistlicher unterscheidet sich jedoch in wesentlichen Punkten von der eines normalen Arbeitnehmers. Zeitliche Belastung, Vielfältigkeit der Aufgaben, Verantwortung in Etatentscheidungen sowie unzureichende Trennung von Arbeits- und Privatleben machen den Pfarrer eher vergleichbar mit Führungskräften im Managementbereich oder Selbständigen. Für diese Berufsgruppen ermittelten Feuerlein/Küfner 1977 eine 10%ige Alkoholismusgefährdung (12). W. Marx (28) fand in ausgesuchten Allgemein- und Suchtkliniken einen zehnprozentigen Anteil von Theologen unter der Gesamtzahl aller Patienten mit Suchterkrankungen, die dort an einem bestimmten Stichtag behandelt wurden. In einer der größten katholischen Diözesen Deutschlands, der Diözese Rottenburg-Stuttgart, sind 1988 ca. 5% aller aktiven Priester wegen einer Suchterkrankung auffällig geworden (36). Geht man also von einem 5- bis 10prozentigen Anteil Abhängiger in Orden und Klerus ans, so bedeutet dies ca. 2000 bis 4000 Erkrankte. Dabei ist anzumerken, dass die für den gesamten Suchtbereich geltende Dunkelziffer in diesem Fall eher noch höher angesetzt werden muss. Unabhängig von der genauen Zahl der Erkrankten besteht in jedem Fall ein erhebliches persönliches Leid des Betroffenen und der nächsten Angehörigen, die oft mit ungeheurem Kraftaufwand – gegenüber Kirchenleitung und Gemeinde den Alkoholismus vertuschen wollen. Die Arbeitskraft der Alkoholabhängigen bleibt oft erstaunlich lange erhalten. Ähnlich wie andere Führungspersonen oder Selbständige können abhängige Geistliche ihre Berufsrolle selbst in späten Stadien der Erkrankung aufrechterhalten (29). Gelegentliche Ausfälle durch Volltrunkenheit können nicht selten durch Hinweis auf Verpflichtungen außerhalb der Gemeinde oder nicht näher definierte Krankenbesuche kaschiert werden. So kommt es, daß die zuständige Kirchenleitung oder die Personalreferenten oft erst in einem sehr späten Stadium von dem Problem Kenntnis erhalten.

Rollenkrise des Pfarrers – berufsbedingte Ursachen der Suchterkrankung

Die Entstehungsbedingungen von Abhängigkeiten sind vielfältig. So soll es nicht darum gehen, jeden alkoholkranken Geistlichen ausschließlich als Opfer seines Berufes hinzustellen. Wie bei anderen Abhängigen spielen viele Faktoren der einzelnen Persönlichkeit, seiner sozialen Umgebung (dazu gehört auch der Arbeitsplatz) eine Rolle (44). Zudem sind bei vielen Alkoholikern, die nicht in der Kirche tätig sind, religiöse Aspekte bei der Entstehung, der Symptomatik und der Heilung der Alkoholerkrankung wesentlich beteiligt (30, 39). Trotzdem soll im folgenden der Versuch unternommen werden, rollenspezifische Gründe einer Suchterkrankung zu untersuchen. Dabei werden sowohl in der Person des Geistlichen selber liegende wie auch in der Umwelt begründete Bedingungen diskutiert.

Autoritätsverlust

Schaut man sich die Position Geistlicher in den letzten Jahrzehnten an, so ist ein tiefgreifender Autoritätsverlust, eine vermehrte Anforderung an die berufliche Qualifikation und eine verstärkte Einsatzforderung bei deutlich rückläufiger Priesterzahl zu erkennen. Viele Geistliche sehen sich in ihrer Gemeinde erheblichen Wünschen, Forderungen aber auch kritischen Anwürfen ausgesetzt. So spricht das sicher eher konservative “Handbuch der Pastoraltheologie” (4) von einer Rollenkrise des Priesters, innerhalb derer sich mancher fragt, wo er steht und welchen spezifischen Auftrag in der Kirche er zu erfüllen hat.

Vor allem in den Anfangsjahren der Berufstätigkeit erleiden so manche Geistliche einen Praxisschock, wenn sie feststellen müssen, dass vielerorts die theoretische Ausbildung ein berufsfremdes Ideal herangezüchtet hat, das in der harten Praxis nicht annähernd zu erfüllen ist. Zudem sieht sich der Priester in der Seelsorge in der Konkurrenzsituation mit voll ausgebildeten Fachleuten, die ihm z. B. auf dem Gebiet der Pädagogik oder Psychotherapie überlegen sind. Sicher hat sich hier im Rahmen einer neuen Seelsorgebewegung (31) manches getan, z.B. die Schulung von Theologen in Balint-Gruppen, um zu einem besseren Verständnis beim Umgang mit Ratsuchenden zu verhelfen. (3). Auch Hilfen im Umgang mit suchtkranken Gemeindemitgliedern sind für Theologen heute leichter zugänglich (2, 17, 33). Bei nicht wenigen Geistlichen hat dies jedoch eine Überforderung in ihrer Helferrolle zur Folge. Überbelastung und Selbstüberforderung machten ans ihnen selbst “hilflose Helfer” (35). Unter den besonderen innerkirchlichen Bedingungen – z.T. erhebliche Isolation untereinander – ist es gerade auch für Suchtkranke, die in sich von Selbstzweifeln und Schuldgefühlen geplagt werden, schwer den Weg zum Amtsbruder zu finden. Hier fragt W. Marx zu Recht: “Wo finden professionelle Seelsorger selbst Seelsorge?” (28, 40). Offensichtlich herrscht hier ein erheblicher Notstand.

Hoher Anspruch – Größenphantasie

Aber auch in der Person des Geistlichen selber liegende Faktoren können einen erheblichen Einfluss auf Entstehung und Verlauf einer Suchterkrankung haben. Hier seien unter anderem der Drang, anderen zu helfen, hohe Ansprüche an sich selber bis hin zum Perfektionismus, eine Unterdrückung eigener negativer Emotionen und eine strenge Verpflichtung auf die eigene Vorbildfunktion in der Gemeinde genannt. Sie sind der Ausdruck einer Persönlichkeit mit insgesamt hohem Ich-Ideal und entsprechenden Größenphantasien, wie sie sich auch bei vielen anderen Angehörigen helfender Berufe (z. B. Ärzte) finden.

Solchen Personen ist das Eingestehen eigener Schwächen häufig nur schwer möglich, da es den Kern der Persönlichkeit kränkt (narzisstische Kränkung).

Sicherlich können auch Glaubensprobleme, Konflikte innerhalb der kirchlichen Hierarchie oder persönliche Abweichungen zur offiziellen Lehrmeinung (z. B. die problematische Haltung gegenüber geschiedenen Wiederverheirateten in der katholischen Kirche) zu erheblichen Spannungen führen. In der katholischen Kirche leiden manche Priester zudem am Zölibat, sind heimliche Beziehungen zu Frauen eingegangen (26) und benutzen Alkohol, um hier die peinigenden Konflikte zu betäuben. So vielfältig wie die Ursachen sind auch die Auswirkungen. Sie können zu Suchtkrankheiten führen. Häufiger finden sich eine Vielfalt körperlicher Erkrankungen, ausgeprägte Depressionen bis hin zur Suizidgefährdung, Hierzu gibt es eindrucksvolle Ausführungen und auch eine Fülle von Fallbeispielen von dem Arzt und Theologen Dr. K. Thomas (38). Nicht selten erwachsen aus den ihm und anderen Ärzten geschilderten, klinisch relevanten Depressionen auch sekundäre Alkoholprobleme, wenn der depressiv Erkrankte eine “Selbstbehandlung” mit Alkohol versucht (45).

Ein Bild, das der Grals-Legende entnommen ist, soll die innerpsychische Not dergestalt Erkrankter beschreiben:

“Parcival findet ein verwüstetes Kloster und Konvent. Die Mönche und Nonnen sind in schwerer Not. Das heilige Sakrament steht auf dem Altar, kann aber nicht berührt werden. Niemand kann sich ihm nähern oder davon Gebrauch machen. Die Früchte des Feldes wachsen nicht, die Tiere erzeugen keine Nachkommen, die Brunnen sind ausgetrocknet, die Bäume tragen keine Frucht, alle Dinge sind irgendwie schiefgegangen. Es ist ein gelähmtes Land.”

Das mythische Bild zeigt eindrucksvoll die innere Unfruchtbarkeit, die Störungen im Lebenskern und eben auch im Kern religiösen Erlebens, wie sie in besonderer Form alkoholabhängige Priester leidend erleben. (9, 32)

Behandlung der Sucht

Die Grundlinie der Therapie alkoholkranker Geistlicher ist die gleiche wie bei anderen Suchterkrankten: Entzug, Entwöhnungsbehandlung mit der genauen Erfassung des Suchtverhaltens (in welchen Situationen, wann, wieviel wurde getrunken?), der Einschätzung der sozialen Situation und der Analyse zugrundeliegender Lebensprobleme (5). Der wichtigste Punkt in diesem Geschehen ist die Einsicht des Abhängigen in die Tatsache seiner Alkoholabhängigkeit. Dies wird treffend beschrieben als eine Kapitulation, d.h. als das Aufgeben jeglichen gedanklichen oder gefühlsmäßigen Widerstandes gegen die Tatsache der eigenen Suchterkrankung.

Viele Lebensschicksale erkrankter Alkoholiker zeigen, dass die Kapitulation nicht ein einmaliger Vorgang sein kann, sondern ein langsamer Prozess. Für manchen Erkrankten sind einer, ja mehrere Rückfälle nötig, um bis zu dieser, die ganze Existenz betreffenden Einsicht zu kommen. Father Pfau (32), ein amerikanischer Priester, kam erst nach mehreren Zusammenbrüchen, stationären Behandlungen und Elektroschocks zu dieser Einsicht.

A. Duval, ein französischer Jesuit, ,,benötigte” eine lebensgefährliche Bauchspeicheldrüsenentzündung, ein Delir und einen Suizidversuch, um den Tiefpunkt zu erreichen (9). Starke, manchmal fast unüberwindlich erscheinende Widerstände bieten offensichtlich viele Priester auf, um die Tatsache eigenen Kontrollverlustes zu verleugnen. Gerade Angehörige von Helferberufen, die vielleicht jahrelang Verzichte leisteten, um zu studieren, um sich für andere Menschen etwa unter dem inneren Druck eines hohen Ideals ,,aufzuopfern”, haben besondere Schwierigkeiten, diese – in ihrer Gesamtpersönlichkeit erschütternde Realität anzuerkennen. Und doch gilt gerade hier der Satz: “Die Wahrheit ist es, die frei macht”. Für religiös geprägte Menschen verbirgt sich hinter dem Widerstand gegen das Eingeständnis: “Ich bin Alkoholiker” die Abwehr massiver innerer Schuldgefühle.

Schuldfrage und Therapie

Die Wichtigkeit der Beachtung der Schuldfrage in der Therapie als Voraussetzung für eine nachfolgende Genesung wurde kürzlich beeindruckend von Saloch Vogel beschrieben. (34). Ihm ist zuzustimmen, dass die Therapie von Schuld und Scham letztlich nur möglich ist in der Wärme anderer Menschen und im Gefühl des Angenommenseins in einer liebevollen Beziehung. Gerade diese Bezüge aber waren dem Alkoholkranken in der “nassen” Phase seiner Krankheit verwehrt, weil er selber sich vor ihnen verschloss. Um so tiefgreifender und beglückender erleben Abhängige später die Geborgenheit, z. B. in einer Selbsthilfegruppe (9, 32, 37). Nach meiner Erfahrung tun sich aber gerade die akademisch geschulten Helfer – und dazu gehören eben auch Priester -, besonders schwer, Gefühle von Nähe, Verbundenheit, aber auch die negativen Gefühle von Schuld und Scham zuzulassen (29) . Aufgrund ihrer besonderen Schulung benutzen sie ihre intellektuellen Fähigkeiten zu manchmal endlos erscheinenden Abwehrmanövern und Rationalisierungen.

Einer meiner Patienten, der dies geradezu beispielhaft praktizierte, war ein katholischer Theologe, der in der suchttherapeutischen Einzel-, aber auch Gruppenbehandlung immer wieder theologische Themen diskutieren wollte. Bei ihm konnte der Wunsch nach solchen “verkopften” Diskussionen geradezu als Maßstab dienen, wie weit er im Laufe der Therapie gesundete, d.h., wie weit er bereit war, nicht nur auf seinen Kopf, sondern auch auf sein Herz, d.h. seine Gefühle einzugehen. Hier sind therapeutische Zugänge speziell auch durch die sogenannten nonverbalen Therapien möglich. In denen geht es nicht in erster Linie um das gesprochene Wort, sondern um “hören und fühlen” (Gestaltungstherapie) und “sich bewegen und fühlen” (Leib- und Bewegungstherapie). Ich habe gesehen, wie gerade die sogenannten ” intellektuellen Typen” enorme Schwierigkeiten hatten, mit diesen – für sie unvertrauten – Ausdrucks- und Erfahrungsmöglichkeiten umzugehen, wie sie selbst einfache Übungen zunächst nur mit Überwindung durchführen konnten. Gleichzeitig ereignete sich für viele gerade in diesen Therapien die entscheidende Verwandlung, weil wesentliche, zum ganzen Menschsein gehörige Bereich, neu erschlossen wurden.

Zugänge zur Therapie

Die Zugänge zur Therapie sind vielfältig. Häufig sind es die unmittelbar mit dem Geistlichen zusammenlebenden Familienangehörigen oder Mitarbeiter, die den Anstoß zur Behandlung geben. In der Regel wird vor allem bei späten Fällen eine ambulante Therapie nicht ausreichen, sondern der stationäre Entzug und eine fachgerechte Entwöhnungsbehandlung angestrebt sein. Natürlich kommt es auch vor, dass alle Bemühungen nahestehender Menschen den Kreis von Verleugnung, den Kreis von Verleugnung, den jeder Abhängige um sich aufrichtet, nicht zu durchbrechen vermögen. Dann ist es entweder sein Zusammenbruch oder ein drastisches Fehlverhalten (z.B. offensichtliche Trunkenheit bei Ritualhandlungen mit entsprechenden Protesten aus der Gemeinde), das zu einer Behandlungsmaßnahme führt. Nicht selten ist diese Erstbehandlung wenig erfolgreich, wenn etwa nur eine körperliche Entzugsmaßnahrne durchgeführt wird oder der Erkrankte z. B. Beruhigungsmittel verschrieben bekommt (37).

Dies kann zu einem Teil auch an den behandelnden Ärzten liegen, die vielleicht ein Priester aus einer unbewussten Scheu heraus nicht auf seinen Alkoholmissbrauch ansprechen können und damit unfreiwillig zum Co-Alkoholiker werden – Zudem gibt es auch heute noch Medizinerkollegen, die Alkoholismus als “Valium-Mangelkrankheit” (25) behandeln und die damit den nötigen Zusammenbruch hinausschieben. Eine weitere Ursache mag auch in mangelnder Ausbildung kirchlicher Führungskräfte liegen, die nicht immer mit der nötigen Eindeutigkeit auf einer fachgerechten Suchtbehandlung bestehen. Hier sind in letzter Zeit erfreuliche Veränderungen festzustellen.

lm Gespräch mit dem Personalreferat der Diözese Rottenburg-Stuttgart (36) hat der Autor versucht, die Art des Umgangs mit alkoholkranken Priestern in dieser Diözese zu erfahren. Es stellte sich heraus, dass man häufig erst von dem Problem Kenntnis erhält, wenn ein Priester in seiner Unterrichtstätigkeit an Schulen oder beim Lesen der Messe auffällig wird oder vermehrt fehlt. In solchen Fällen kommen zum Teil auch gezielte Hinweise ans der Bevölkerung. Gar nicht so selten macht auch der Entzug des Führerscheins aufmerksam. Hat das bischöfliche Ordinariat einmal Kenntnis erhalten, so wird nach Überprüfen der tatsächlichen Verhältnisse gezielt interveniert.

Konfrontation als Einstieg

Der Priester wird mit den Vorfällen der Vergangenheit konfrontiert und je nach persönlicher Einsicht unter mehr oder minder starkem Druck zu einem Suchtberater gebracht. In diesem Gespräch, das ohne Beisein eines vom Bischof Beauftragten stattfindet, erhält der erkrankte Priester Gelegenheit, mit einem Fachmann die eigene Situation zu überprüfen, dabei werden ihm geeignete Maßnahmen vorgeschlagen. Diese können ambulante Entziehung und Selbsthilfegruppe oder die Behandlung in einem Fachkrankenhaus für Suchtkrankheiten sein. Sollte der Betreffende hartnäckig sein Problem verleugnen, wird eine Reihe von Maßnahmen, bis hin zur Entfernung aus dem Gemeindeamt erwogen.

Bei der Wahl der Therapiestätte steht die Qualität im suchttherapeutischen Bereich an erster Stelle. Die bewusste glaubensmäßige Ausrichtung ist demgegenüber von nachgeordneter Bedeutung. lm letzten Drittel der jeweiligen Therapie wird mit dem Erkrankten die Rückkehr in das aktive Berufsleben besprochen. Gemeinsam mit dem Betroffenen wird die Entscheidung zur Rückkehr in die alte Gemeinde oder zu einer Versetzung in eine neue getroffen. Bei Rückfällen ist eine erneute Behandlung indiziert.

Nicht selten muss erst eine klare dienstliche Entscheidung, z.B. eine Rückstufung vorliegen, um eine Behandlungsmotivation zu erreichen. Dies war der Fall bei einem meiner Patienten, einem promovierten Theologen und Ordensmann, der durch seine Alkoholkrankheit erheblich beeinträchtigt war. Erst als ihm mit dem Verlust der restlichen noch verbliebenen Aufgaben gedroht wurde, erklärte er sich zu einer stationären Behandlung bereit. Noch ein weiteres Beispiel möge verdeutlichen, wie verschiedenartig Lebensereignisse ausfallen können, die einen Umkehrprozess einleiten: Ein international bekannter Autor und spiritueller Führer erschien deutlich alkoholisiert zu einem Wochenendseminar, an dem ich teilnehmen wollte. Fast alle anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer bekannten sich zum Islam, der ja bekanntlich gegenüber Alkohol ein besonders strenges Verbot ausspricht. Als diese islamischen Teilnehmer nun den offenkundigen Zustand des geistlichen Lehrers bemerkten, weigerten sie sich geschlossen, an der Veranstaltung teilzunehmen, sie mußte abgesagt werden.

Solche Ereignisse motivieren sicher nur selten zu einer unmittelbaren Einsicht und Therapie. Trotzdem bilden sie eine Kernerfahrung, die einen Alkoholerkrankten zur persönlichen Kapitulation und damit Umkehr führen kann.

Welche Therapieeinrichtungen kommen in Frage?

Zu einer solchen Suchttherapie stehen verschiedene Modelle zur Verfügung. Was die Behandlungszeit angeht: Kurz-, mittelfristige und Langzeittherapien (10). Sicherlich bedeutet es für eine Gemeinde, einen Konvent, einen erheblichen Unterschied, ob sie einen Priester nur etwa für einen verlängerten Urlaub (6 Wochen) oder aber für ein halbes Jahr entbehren müssen. Die Erfolgsergebnisse bei unterschiedlicher Verweildauer sind nicht wesentlich verschieden (27). Ein weiteres wichtiges Auswahlkriterium stellt sicher auch die inhaltliche Gestaltung der Entwöhnungstherapie dar:

  • Gibt es vorwiegend Gruppenbehandlung und nur gelegentlich Einzelgespräche?
  • Gibt es ein vollständiges tiefenpsychologisches oder verhaltenstherapeutisches Programm?
  • Wie weit kann auf den Einzelnen individuell eingegangen werden?
  • Welche Rolle wird der Religion in der Behandlung zugewiesen?
  • Sind Seelsorger im suchttherapeutischen Team integriert?

Bei der Fülle der mittlerweile praktizierten Suchttherapieformen lässt sich hier kein auch nur annähernd vollständiger Überblick geben. Die Erfahrungen des Autors beruhen auf einem suchttherapeutischen Konzept, das sowohl eine konsequente Suchtbehandlung als auch eine parallel verlaufende tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie beinhaltete (13). In dieser Konzeption wurde für jeden Patienten ein individuelles Behandlungsprogramm zusammengestellt, das auf die persönliche Motivation, Bedürfnislage, aber auch Verarbeitungsfähigkeiten Rücksicht nimmt. So wurde ein hochgradig ängstlicher oder ein durch Scham und Schuld innerlich blockierter Suchterkrankter z.B. anfangs nicht in eine Gruppensituation gebracht, sondern einzeltherapeutisch behandelt. (29)

Doppelrolle – Patient und Helfer zugleich

Beachtenswert ist weiterhin, in welcher Weise Betroffene sich innerhalb der Klinik hinter Namen, Rolle oder Rang gelegentlich zu verstecken suchen. Unterstützt werden sie dabei von anderen Patienten, die – gerade bei Ärzten oder Priestern – im Mitpatienten doch irgendwo den Experten befragen, sich von ihm Hilfe holen. Zn einem frühen Zeitpunkt der Behandlung ist dies störend, insofern es das Sich-Einlassen auf die eigene Erkrankung für den Geistlichen erschweren kann (Weber, Suchtkranke Ordensmänner). Später können sie dafür besser erkennen, wie sehr berufstypische Verhaltensweisen als Entschuldigung für Suchtverhalten oder auch als Schutzschild vor dem Eingestehen eigener Niederlagen verwandt wurden. Hier ist gewissermaßen ein Lernen am Vorbild länger behandelter Patienten möglich, wie dies unter anderem auch in Hazelden (USA) geschieht. (18)

Es ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, alle Details der suchttherapeutischen Behandlung von Geistlichen darzustellen. Eine gute Hinführung zu diesem Thema mit vielen nützlichen und praktischen Hinweisen erarbeitete Pater Dietmar Weber, ein Diplom-Theologe und Krankenseelsorger, der seit 8 Jahren als Therapeut in einem Fachkrankenhaus für Suchtkranke arbeitet (42). Zwei Aspekte möchte ich jedoch näher ausführen.

Unterdrückte Gefühle ausleben

Dies ist zum einen der Umgang mit unterdrückten Gefühlen im Glaubensleben. Was ist damit gemeint? In unserer religiösen Erziehung haben sicher viele ein Gottesbild erhalten, das Gott als einen gütigen, allzeit liebenden Vater beschreibt. Menschen, deren Leben in existenzielle Krisen stürzt, wie etwa Suchtkranke, spüren oft zunehmend Zweifel an diesem – einseitigen Gottesverständnis. Je nachdem, wie stark die religiose Erziehung sich bei ihnen auswirkt, gestehen sie sich diese Zweifel ein, drücken sie aus oder unterdrücken sic. lm christlichen Raum ist ein besonderer Mangel an dem klagenden Ringen mit Gott. So schreibt der Theologe F. Knaus: “Wir haben eine reiche kirchliche Liturgie. Lob, Dank, Anbetung haben in ihr selbstverständlich ihren Platz . . . Warum gibt es in unserem Gottesdienst kein liturgisches Stück, das man Klage nennen kann, vielleicht sogar Gottesanklage?” (23)

Bei solchen Zeilen muss ich an ein Erlebnis meiner Lehrerin Elisabeth Kübler-Ross denken. Sie hielt vor einigen Jahren einen Vortrag in einem amerikanischen Konvent über die Bedeutung unterdrückter Gefühle. Schon während des Vortrages spürte sic, wie die Spannung unter den Zuhörerinnen immer stärker wurde, und so bot sic ihnen an, einen Teil ihrer “unerledigten Geschäfte mit Gott” auszusprechen. Lange geschah nichts. Doch dann schritt die 72jährige Äbtissin des Konventes mutig nach vorne, nahm ihren Schleier ab und begann vor ihren Mitschwestern Gott anzuklagen, viele bisher verborgene Zweifel, ja wütende Anklagen gegen ihn zu richten. Nach der Äbtissin folgten noch einige weitere Nonnen ihrem Beispiel und klärten ihre Beziehung zu Gott. E. Kübler-Ross besuchte Jahre später das gleiche Kloster und land ein sehr viel wärmeres, menschlicheres Miteinander in diesem Konvent vor.

Das Ausdrücken von negativen Gefühlen gerade auch gegenüber Gott, der Kirche oder den religiösen Glaubensgenossen kann innerhalb einer Suchttherapie einen ähnlich entlastenden Effekt haben, bringt es den Patienten doch in intensiven Kontakt mit den Gefühlen (17). Erst wenn die aufgestauten negativen Gefühle geäußert werden, wird der Weg frei für eine neue Erlebnisweise, schöpft der Mensch wieder Hoffnung, ja, kann die verschüttete Liebe wieder erlebt und ausgedrückt werden.

So führt die Begegnung mit dem Verdrängten (Schatten) zu einer personalen Ganzwerdung.

Rolle des Gebets

Der zweite Aspekt der Therapie abhängiger Priester, den ich erläutern möchte, ist der des Gebets. Gebetsverhalten ist nach Hole (20) ein Kontaktverhalten, das vor allem auch eine emotionale Bewegung auf ein personales Gegenüber voraussetzt. Dem Alkoholiker in der chronischen Phase sind solche Bezüge oft nicht mehr möglich. Zu sehr kreist sein Denken nur noch um das Suchtmittel; zu sehr ist auch seine allgemeine Whrnehmung und Konzentration in der Regel beeinträchtigt (32). Erst durch den Entzug und eine neu gewonnene Nüchternheit kann das Gebetsleben wieder lebendig werden, gelingt es, ein vielleicht selbst in kranken Phasen noch durchgehaltenes Gebetsritual (9) auch wirklich mit Sinn und Inhalt zu erfüllen. Wie weit ihm dabei innerhalb der Therapie Hilfsmöglichkeiten gegeben werden, sei es durch einen zum Team gehörigen Seelsorger (7, 18, 43), sei es, dass ein Therapeut aufgrund seines eigenen Glaubensverständnisses Wege zu einem neuen Gebetsverständnis weisen kann, muss jede Einrichtung für sich entscheiden.

Einen besonderen Weg beschritt Walter Lechler, früher Chefarzt der psychosomatischen Klinik Bad Herrenalb. An jedem zweiten Samstag im Monat hielt er Bibelstunden. Dabei begann er meist mit der Auslegung eines biblischen Textes und bereitete damit den Boden für ein fruchtbares Gespräch, in das jeder seine religiösen Erfahrungen und Fragen einbringen konnte. Dabei erlebten viele Patienten, wie sinnvoll und hilfreich religiöse Bindungen sein können (15). Ein Pfarrer faßte seinen Eindruck so zusammen: “Ich wollte immer durch Studium und Bücher etwas über Gott und den Sinn meines Lebens wissen. Jetzt weiß ich, dass ich ihn erfahren und erleben muss.” (Seite 148, Hambrecht)

Anforderungen an den Therapeuten

Aus den oben ausgeführten Überlegungen heraus ergibt sich unschwer, dass die Behandlung abhängiger Geistlicher an den Therapeuten gewisse Anforderungen stellt. Zum einen wird vorausgesetzt, dass er sich innerhalb der Suchttherapie Kompetenz erworben hat. Darüber hinaus ist ein Grundwissen um Lebensumstände und Lebensstil im Priesteramt wünschenswert, um eine effektive Hilfestellung geben zu können.

Ferner ist ein grundlegendes Wissen um die stabilisierenden, heilenden sowie auch über die krankmachenden Auswirkungen religiöser Haltungen, etwa bei religiösen Neurosen (16) wichtig. Wo all dies nicht gegeben ist, wäre es zumindest wünschenswert, wenn der Helfer in klarer Anerkennung seiner Grenzen, einen Fachmann, etwa einen in Suchtfragen nicht unerfahrenen Seelsorger, hinzuzöge.

Bedeutsam erscheint auch die eigene Stellungnahme der therapeutischen Bezugspersonen gegenüber Glaube, Religion und auch Kirche. Hierzu stellte Hole (20) schon 1980 zutreffend fest, dass bei vielen Therapeuten auf religiösem Gebiet eine innere Ratlosigkeit herrsche und dass aus der persönlichen Nichtbewältigung religiöser Thematik generell eine Tabuisierung des religiösen Bereichs in der Therapie erfolgt (Hole, Handbuch für Psychologie und Psychiatrie). Jûngst konstatierte Küng das Fehlen des Themas Religion in Psychiatrie und Psychotherapie (24) und wandte sich gegen die Verdrängung der Religiosität. Sicherlich täte sich mancher Therapeut leichter mit der Theologie, wenn diese ein menschlicheres Maß zurückgewänne, etwa im Sinne Bisers Bemühung um eine therapeutische Theologie (6). In praktischer Hinsicht gibt es schon heute Möglichkeiten, z.B. für katholische Priester mit Suchtproblemen, die Erlaubnis, die Messe mit unvergorenem, reinen Traubensaft zu feiern (42).

Offene Fragen

Angesichts insgesamt nur lückenhafter Kenntnisse über Suchtprobleme im Klerus bleibt vieles offen. So ist gegenwärtig z. B. unklar, Ob zwischen evangelischen und katholischen Theologen unter dem Aspekt der Suchtkrankheit wesentliche Unterschiede bestehen, ob innerhalb der katholischen Kirche Ordensgeistliche eher mehr oder eher weniger Hilfe erfahren. Auch die Frage nach Selbsthilfegruppen für abhängige Mediziner gibt – wie sie es für abhängige Mediziner gibt – verdient Beachtung. Insgesamt ist es zu wünschen, dass die Ansätze eines offeneren Umgangs mit diesem Tabuthema in der Zukunft anhalten.

Dr. Bernhard Mäulen

Sonderdruck aus Partner 2/3/89