Sucht bei Priestern – Gibt es die? Die gibt es!

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Mehr Verständnis für die Not suchtkranker Geistlicher ist dringend erforderlich

Alkoholkranke Priester, Pfarrer, Ordensgeistliche – unmöglich? In der Tat gehört es nicht zum Alltag, die Not auch bei Helfern, insbesondere bei Theologen wahrzunehmen. Wer wird sich schon Großartiges dabei denken, wenn in der Tageszeitung zu lesen ist: ,Hochzeit fiel aus – Pfarrer kam betrunken zur Trauung”.

Dabei haben solche und ähnliche Meldungen keineswegs Seltenheitswert. Und auch eine ganze Reihe von Lebensberichten suchtkranker Priester und Pfarrer sind Leicht zu finden, etwa im ,Deutschen Pfarrerblatt’, in der Zeitschrift ,Lebendige Seelsorge’ oder in Buchform (,Warum war die Nacht so lang?’ vom Jesuiten Aimé Duval). Trotzdem bleibt meistens die Not der Betroffenen im Verborgenen. Innerhalb der Selbsthilfegruppe der Anonymen Alkoholiker hat Father Pfau in den 30er Jahren bereits über die eigene Alkoholkrankheit gesprochen, später auch geschrieben und so in Amerika ganz wesentlich dazu beigetragen, daß die Kirche die Probleme suchtkranker Priester überhaupt wahrnahm.

Die Verfasser des Beitrages haben zusammen über mehrere Jahre bei suchtkranken Geistlichen Motivationsgespräche, stationäre Behandlung und koordinierte Nachsorge durchgeführt. Das Ausmaß an Einsamkeit, persönlichem Leid betroffener Priester einerseits und die Auswirkungen auf die Gemeinden sowie die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers Kirche andererseits geben Anlaß, in der Öffentlichkeit für mehr Verständnis, Hilfe und Sachkompetenz einzustehen.

Alkohol steht an erster Stelle

Gesicherte Angaben zur Häufigkeit liegen nicht vor, qualifizierte Schätzungen lassen aber erkennen, daß sieben bis zehn Prozent der theologischen Mitarbeiter in den Kirchen unter Suchtkrankheiten leiden. Wesentliche Unterschiede zwischen katholischen und evangelischen Geistlichen sind dabei nicht zu erkennen. Auch eine Beschränkung des Problems auf die christliche Kirche wäre abwegig, Suchtkranke sind unter den Rabbinern ebenso zu finden wie in den Gemeinschaften der buddhistischen Mönche.

Bewußt beschränken wir unsere Ausführungen auf den Bereich der christlichen Kirchen. Bei etwa 20.000 katholischen und ca. 25.000 evangelischen Geistlichen bedeutet das: zwischen 3.500 bis 4.500 Priester trinken unkontrolliert Alkohol oder schlucken übermäßig Tabletten. Kein Alter, kein Geschlecht, keine Weihe bietet automatischen Schutz vor dieser Krankheit, selbst vor einem Bischof macht sie nicht Halt; Klostermauern können nie dick und hoch genug sein, um hinter ihnen gegen krankhafte Sucht gefeit zu sein. So haben zwei Ordensschwestern im US-Staat Illinois 1979 eine überregionale Gruppe gegründet, der im Jahre 1992 bereits 313 alkoholkranke Ordensschwestern angehörten.

Angesichts dieser Zahlen wird deutlich, daß auch in dem Großbetrieb “Kirche” Suchtkrankheiten ein nicht zu unterschätzender Faktor ist, auf dessen Bedeutung sich die Personalverantwortlichen einstellen müssen, wo es letztlich nicht nur um Einzellösungen gehen kann, sondern koordinierte und effiziente Hilfe angeboten werden muß.

Alkohol spielt (wie auch sonst in der Bevölkerung oder bei einzelnen Berufsgruppen z. B. Ärzten – siehe drogen-report 6.98) die größte Rolle, gefolgt von Tabletten (Beruhigungsmittel, seltener Aufputschmittel).

Immer häufiger werden Kombinationen verschiedener Suchtmittel genommen, teils um die Nebenwirkungen kontrollieren zu können.

Sieben bis zehn Prozent der Geistlichen in den christlichen Kirchen in Deutschland haben ein Suchtproblem, 3.500 bis 4.500 Priester trinken unkontrolliert Alkohol oder nehmen übermäßig Tabletten zu sich.

Hauptsuchtstoff ist Alkohol.

Häufig genannte Gründe: hohe Verantwortung, große seelische Belastung, Sinnleere, zu hohe Selbstansprüche, Vereinsamung, Arbeitsüberlastung als Folge des Priestermangels.

Statistisch gesehen, sterben suchtkranke Geistliche im Durchschnitt 14 Jahre früher als nicht süchtige.

Berichte von Betroffenen zeigen, daß Hilfe möglich ist. Der Arbeitgeber ,Kirche’ darf die Konfrontation mit den Geistlichen nicht scheuen. Nur so besteht die Chance auf Heilung.

Unbegründet ist die Angst, zu glauben, die Gemeinde würde ihren Geistlichen verstoßen, wenn bekannt würde, daß er süchtig ist. Untersuchungen zeigen, daß die Gemeinde gerade dann sehr solidarisch ist, wenn Geistliche Hilfe benötigen.

Suchtabhängige Geistliche berichten, daß sie nach einer Therapie mehr Verständnis für die Menschen in ihrer Gemeinde haben. Der ,Umgang mit der eigenen Wunde’ ließe sie menschlicher im Glauben wirken.

Das Zölibat hat als Ursache nur geringe Bedeutung

Unsere Erfahrung, ist daß es viele unterschiedliche Gründe und Ursachen für Sucht bei Geistlichen gibt. Jeder Betroffene hat seine eigene Krankheitsgeschichte. Viele lassen sich dann im Rahmen der Therapie, des geduldigen Zuhörens nachvollziehen. Folgende Faktoren werden häufig genannt:

  • unregelmäßige, meist zeitintensive Tätigkeiten
  • erhöhte Verantwortung
  • größere seelische Belastungen
  • Erfahrung von Sinnleere und Ausgebrannt-Sein
  • zu hohe Ansprüche an sich (Helferideal)
  • zu hohe Ansprüche seitens Dritter (Fremdideal)
  • häufïge Trinkgelegenheiten, hoher Erwartungsdruck
  • gestörte mißglückte Beziehungen und damit verbundene Vereinsamung
  • objektive Arbeitsüberlastung wegen Priestermangel (Notwendigkeit, die Arbeit von zwei oder drei Hauptamtlichen zu leisten) oder Finanzknappheit.

Mehr Offenheit, weniger Angst

Die christlichen Kirchen in Deutschland durchlaufen momentan harte Zeiten: Stellen werden abgebaut, Nachwuchsprobleme und Überalterung von Priestern führen zu hohen Belastungen einzelner. Gleichzeitig ist die seelische Not in den Gemeinden hoch, immer mehr Menschen suchen Rat und Hilfe. Keine optimale Zeit also, um die Gesundheit von Mitarbeitern besonders zu beachten. Auf der anderen Seite ist es in solchen Situationen erst recht wichtig, die Gesundheit und Arbeitskraft der Mitarbeiter zu erhalten und weitere Komplikationen wie negative Berichterstattung in der Presse und Imageschäden zu vermeiden. Kommt es hier zu Versäumnissen, werden noch mehr kirchliche Helfer in psychische Nöte, burnout und Abhängigkeit geraten.

In den letzten Jahren ist viel getan und erreicht worden, oft jedoch begrenzt auf einzelne Diözesen. Eine wirkliche bundesweite Koordination besteht aktuell weder bei der katholischen noch der evangelischen Kirche. Dabei gibt es genügend Erfahrung und Wissen darüber, welche praktizierten Hilfen” ungeeignet sind, zum Beispiel suchtkranke Geistliche in Exerzitien schicken, oder das Problem durch Versetzung in eine andere Pfarrei “geografisch” verschieben.

Die katholische Sozialethische Arbeitsstelle veranstaltet seit Jahren immer wieder Fachseminare, um funktionierende Lösungen bekannt zu machen. Ziel muß sein, das Thema aus der Tabuzone herauszulösen und zu mehr Offenheit und Angstlosigkeit im Umgang mit Sucht zu kommen. Kontakte zu trockenen’ Priestern, die ihre Erfahrung mit der Krankheit einbringen können, müssen hergestellt werden, ein regelmäßiger Austausch mit Beratungsstellen und Facheinrichtungen ist empfehlenswert, Informationen über Behandlungsstätten sollten vorhanden sein – so können Abläufe von Hilfsprozessen optimiert werden.

Bei solchen Kontakten, Treffen und Seminarteilnahmen geht es um Entlastung und das Gewinnen von Unterstützung in einem zunehmend strapaziöseren Beruf als Geistlicher in einer immer komplexeren Welt.

Viel getan werden muß im Rahmen der Ausbildung angehender Theologen. Hier ist Sucht bestenfalls ein Thema der Pastoralseelsorge, die Auseinandersetzung über eigene Gefährdung wird vernachlässigt. Dabei sind Grundkenntnisse und Fähigkeiten eigener Psychohygiene geradezu unverzichtbar für alle, die lebenslang anderen Menschen helfen und sie begleiten: Priester, Schwestern, Ärzte, Therapeuten, Sozialpädagogen… Aufgezeigt werden müssen Wege, wie sich jeder selbst Hilfe holen kann (Supervision, Selbsterfahrung, Transaktionsanalyse etc.), Techniken müssen erlernt werden, wie Geistliche, bei denen eine Sucht offenbar geworden ist, angesprochen werden können, Möglichkeiten müssen aufgezeigt werden, wie in einer Gemeinde offen mit eigenen und fremden Grenzen umgegangen werden kann.

Der Laie vermutet bei katholischen Priestern oft das Zölibat als Ursache einer Sucht. Nach unserer Erfahrung spielt es keine wichtige Rolle.

Erschwert wird die Ursachenforschung durch die lange, oft über Jahrzehnte gehende Krankheitsentwicklung bei suchtkranken Priestern. Am Ende sind Ursachen und Folgen kaum mehr zu trennen, es ist ein verhängnisvoller Kreislauf eingetreten. Unbehandelt schreitet die Suchtkrankheit fort und bringt den Betroffenen um, im Durchschnitt etwa 14 Jahre vor dem statistisch normalen Sterbezeitpunkt. Bis es aber so weit ist, haben die Betroffenen oft alle Hoffnung verloren – und auch den Glauben. Die Selbstachtung ist verschwunden, Schuld, Angst, Verzweiflung prägen das Innenleben.

Der Arbeitgeber Kirche ist gefordert

Leitsymptom der Sucht ist die Unfähigkeit, sie bei sich selbst zu erkennen. Wie andere professionelle Helfer sind Geistliche davon nicht ausgenommen. Selbst in fortgeschrittenen Krankheitsfällen reden sie sich ein: ,Ich hab’s im Griff. Angehörige, Mitarbeiter in der Gemeinde und natürlich auch Arbeitgeber sind hier gefordert, den klaren Blick zu behalten, davor zu warnen, in die Rolle der Co-Abhängigen zu schlüpfen. Aus der Industrie wissen wir, daß der Arbeitgeber eher als Freunde und Familienangehörige in der Lage ist, mit Konfrontation und Sanktion den Süchtigen zu erreichen.

Betroffenen Pfarrern und Priestern muß bewußt gemacht werden, daß sie ein Suchtproblem haben, welche Auswirkungen diese Tatsache in ihrem beruflichen Umfeld hat und welche Möglichkeiten der Behandlung es gibt. Wichtig für den Erfolg eines aufklärenden Gesprächs ist ein hohes Maß an Verständnis für die Betroffenen, das Unterlassen von Vorwurf oder Beschuldigung, Bewahren der Vertraulichkeit, soweit nicht öffentliche Vorfälle (Gottesdienst in volltrunkenem Zustand, Unfall mit Führerscheinverlust) diese bereits durchbrochen haben. Hat der Suchtkranke akzeptiert, daß “ich krank bin, ich nicht trinke, weil ich ein schlechter Mensch bin, ich trinke, weil ich krank bin und nicht aufhören kann”, muß es zu wirksamen Maßnahmen kommen. Dazu gehört die fachärztliche Untersuchung wie die fachliche Beurteilung der Suchtentwicklung.

Innerhalb einer Entwöhnungsbehandlung greifen zunächst die wichtigsten Grundsätze: Information über Suchtprozeß und Krankheitsfolgen, Erreichen der Akzeptanz der eigenen Abhängigkeit. Darüber hinaus muß es darum gehen, Betroffene in ihre Berufsrolle und in ihrem Glauben spezifisch anzusprechen. ,Trockene’ Geistliche sind hier wertvolle Helfer. Wichtig ist, die Doppelrolle ,Patient und Helfer’ zu klären. Als Patienten sind Geistliche nur für sich da. Bemühen sie sich als Helfer weiterhin um andere, verhindern sie eigene Genesung. Die Themen Schuld, Scham, Versagen bedürfen besonderer Aufmerksamkeit, die hohe Anspruchshaltung Geistlicher an sich selbst erfordert große Sensibilität.

Für die Nachsorge sind Selbsthilfegruppen, Kontakte zu anderen Priestern und Priestergruppen nützlich, eine Betreuung durch die Personalverantwortlichen der Kirchen ist notwendig – auch im Sinne der Beziehungsgestaltung. Absprachen müssen getroffen werden für den Fall des Rückfalls; auch die gehören bei suchtkranken Priestern zum normalen Krankheitsverlauf.

Anforderungen an den Therapeuten

Neben dem Basiswissen qualifizierter Suchttherapie ist bedeutsam, Lebensumstände und Lebensstil von Priestern und Pfarrern zu kennen. Auch sollte eine tiefere Beschäftigung mit Religion, religiösen Haltungen sowohl in ihren heilenden wie auch krankmachenden Auswirkungen bei den Therapeuten vorliegen. Schon 1980 stellte Prof. Hole, Ravensburg, hierzu fest, daß bei vielen Therapeuten auf religiösem Gebiet eine innere Ratlosigkeit herrsche und daß aus der persönlichen Nichtbewältigung religiöser Thematik generell eine Tabuisierung des religiösen Bereichs in der Therapie erfolgt. Heute, 19 Jahre später trifft dies leider noch immer zu. Zwar gibt es eine neue Faszination für die transpersonale Psychotherapie, trotzdem stoßen Kirche und Kirchenvertreter bei manchen Therapeuten auf breites Unverständnis. Beispielhaft: Einige wenige Fachkliniken haben mittlerweile Theologen in ihre Teams integriert.

LITERATUR:

Mäulen B.: Sucht und Seelsorge. Partner2 (1989), 6-18, mit ausführlichem Literaturverzeichnis

Steur H.: Umgang mit suchtkranken MitarbeiterInnen in Gemeinden und kirchlichen Einrichtungen. Impulse 19 (1995) 30-32

Weber D.: Suchtkranke Priester und Ordensmänner, Aspekte zur Behandlung. Arbeitsgemeinschaft katholischer Fachkrankenhäuser für Suchtkranke. Freiburg 1984 Hermann Steur Dr. med. Bernhard Mäulen

Von Bernhard Mäulen und Hermann Steur

Konturen, Fachzeitschrift zu Sucht und sozialen Fragen, 3/99, S. 22-25