Helfen statt Verschweigen

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Suchtkranke Ärzte und Ärztinnen

Ärzte müssen sich um ihre eigene Gesundheit und um erkrankte Kollegen kümmern, so Dr. Bernhard Mäulen, Villingen-Schwenningen.

Auch wenn valide Studien zur Prävalenz substanzabhäniger Ärzte fehlen, kann man von 20 000 Betroffenen ausgehen. Die Erfahrung zeigt, dass auch Fachkollegen, die über Suchtsymptome informiert sind, nicht geschützt sind und ihre eigene Betroffenheit genauso verleugnen wie andere Suchtkranke. Die meisten suchtkranken Ärzte entsprechen nicht dem Stereotyp des Trinkers. Viele können für einige Wochen aufhören und nehmen diese Tatsache als Zeichen, sie hätten den Alkohol oder die Tabletten im Griff. Warum dauert es so lange, bis abhängige Mediziner Hilfe suchen? Was für Suchtkranke allgemein gilt, stimmt auch für Ärzte. Suchtkranke und Mediziner gehen sich aus dem Weg. Bei Ärzten kommt dazu die große Angst, als Versager zu gelten. Viele rechnen damit, von anderen fallen gelassen zu werden und die Approbation zu verlieren. Dadurch verlängert sich der Leidensweg, und die Suchtentwicklung schreitet in Richtung Chronizität. Die Angehörigen, die Hilfe suchen, werden ausgebremst mit dem Hinweis: “Damit machst du meine Praxis kaputt”. Die Länge der Entwöhnungsbehandlung dient oft als Ausrede, denn einen Ausfall von vier bis sechs Monaten verkraftet eine Arztpraxis nur schlecht. Doch es gibt heute effektive Behandlungen, die kürzer sind und nur sechs bis acht Wochen dauern. Aber wie bekommt man den trinkenden Arzt in eine Behandlung? Eine Konfrontation unter Einbeziehung von Freunden mit dem festen Entschluß, keinen Aufschub anzunehmen, hat die besten Chancen, die Sucht zu stoppen.

Für alle, die helfen möchten, gilt der Grundsatz: Informieren Sie sich über die Suchterkrankung, holen Sie sich Unterstützung. Hören Sie auf, mitzumachen! Hilfreich kann es auch sein, mit anderen Ärzten, die ihre Sucht gestoppt haben, Kontakt aufzunehmen. Vorgesetzte in Krankenhäusern sollten den Mut haben, auch bei ärztlichen Mitarbeitern den Nachweis einer effektiven Behandlung zu verlangen.

Gibt es Spezifika in der Therapie suchtkranker Ärzte? Zunächst folgt die Behandlung bewährten Grundsätzen wie Entgiftung, Erarbeitung einer Suchtakzeptanz sowie der Funktionalität des Suchtmittels, Erfassen der Folgeschäden, Bestimmung von Rückfallauslösern und Einbeziehung der Angehörigen. Viele Arzte können den notwendigen Wechsel von der Arzt- in die Patientenrolle nur schwer vollziehen. Es kommt gerade zu Beginn der Behandlung darauf an, diesen Rollenwechsel zu unterstützen und innere Widerstände aufzudecken. Das Behandlungsteam übernimmt die Verantwortung, der Arztpatient behält keine Medikamente, es gibt keine Selbstbehandlung. Auch bei Kollegen kann auf ein Screening auf Suchtmittel nicht verzichtet werden. Es hilft, wenn auch andere Ärzte als Patienten in der Klinik sind, so wird eine Sonderrolle eher aufgegeben. Meist sind die Kollegen rational bereit, doch emotional stark verschlossen. Manche versuchen, mit dem Behandler über sich wie über einen Fall zu sprechen, denn etwas von sich preiszugeben, löst Ängste aus. Jede Behandlung sollte stationär, ohne Sonderregelungen durchgeführt werden. Nervenärzte/Psychiater werden ambulant sehr selten von abhängigen Ärzten konsultiert. Doch auch in diesem Fall sollte man professionelle Distanz wahren und auch unangenehme Fragen, z. B. nach Suizidalität oder ehelichen Außenbeziehungen, stellen und sich von einer effektiven Therapie nicht abbringen lassen.

 

Das entscheidende Moment der mit 70 Prozent Abstinenzrate guten Erfolge ist die koordinierte Nachsorge. Absolut suchtmittelfreies Leben, regelmäßige Einzeltherapie, Besuch von Selbsthilfegruppen – die es auch überregional als spezifische Ärztegruppen gibt – stellen Einzelkomponenten dar. Nicht selten ergibt sich die Notwendigkeit einer Paartherapie, da viele Partnerschaften nach längerer Sucht entfremdet sind. Eine vernünftige Balance zwischen Arbeit und Freizeit erhöht die Chance, auf Dauer abstinent zu leben. Die Bundesärztekammer hat einem Entwurf zum Umgang mit abhängigen Ärzten bearbeitet und eine Empfehlung verabschiedet. Einzelne Bundesärztekammern haben ihre Mitglieder vorbildlich über Suchtkrankheiten und Behandlungsmöglichkeiten informiert. Andere haben immerhin einzelne Ansprechpartner für Betroffene benannt. Die meisten Ärzteversorgungen zahlen einen Teil der Behandlungskosten. Nicht immer ist es einfach, mit den Krankenversicherungen zu einer Übereinkunft zu kommen, da eine Suchtbehandlung für Privatversicherte ausgeschlossen ist. Oft gelingt ein Kompromiss, so dass große Teile der Behandlungskosten übernommen werden. Bereits Medizinstudenten sollten auf die Problematik hingewiesen werden, und in Krankenhäusern sollten betriebliche Suchtprogramme auf Ärzte ausgedehnt werden. Insgesamt bleibt aber am wichtigsten der persönliche Mut, Ärzte und Ärztinnen, bei denen man Hinweise auf ein Suchtproblem findet, frühzeitig anzusprechen.

Für Nervenärzte/Psychiater sollte darüber hinaus ein Kontakt mit Spezialeinrichtungen für suchtkranke Ärzte gegeben sein, um eine schnelle und qualifizierte Weiterbehandlung in die Wege leiten zu können.

Neuro Psychiatr. Nachrichten, 08/99