Abhängigkeit in Pflegeberufen

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Einleitung Die besondere Problematik der Abhängigkeitsentwicklung bei sogenannten Medizinalpersonen (Ärzte, Apotheker, Schwestern und Pfleger) ist seit langem bekannt. Meistens handelt es sich dabei um Alkohol, sehr viel seltener um Rauschdrogen, überdurchschnittlich häufig um Medikamente (Griffnähe!) sowie in wachsendem Maße um eine Mehrfachabhängigkeit (Polytoxikomanie). Die Dunkelziffer ist hoch, sie liegt wahrscheinlich höher als in vergleichbaren Kollektiven. lm Gegensatz zu den Vereinigten Staaten hat das Thema Abhängigkeit in Pflegeberufen im deutschsprachigen Raum bisher wenig Beachtung gefunden. Klinisch beobachten wir, dass Angehörige der Pflegeberufe in letzter Zeit verstärkt als Patienten auf Suchtstationen zu finden sind. Der vorliegende Beitrag befaßt sich mit den Erkenntnissen zur zahlenmäßigen Größenordnung des Problems, mit den besonderen Rollenkonflikten, in die Pflegekräfte als Patienten in der Psychiatrie geraten können, mit den zugrundeliegenden psychodynamischen Abläufen, mit den möglichen Konfliktpunkten für Aufnahme und Therapie abhängiger Krankenschwestern und -pfleger. Nicht eingegangen wird auf berufsbedingte Auslöser im Sinne spezifischer Stressbelastung, da diese kürzlich von Herschbach (1991) detailliert bearbeitet wurden.

Einige Zahlen

Die Prävalenz der Suchterkrankungen in den Pflegeberufen wurde von verschiedenen Autoren unterschiedlich beurteilt. Sullivan und Bissel (1988) schätzten 5 – 6% der Krankenschwestern in Amerika als alkoholabhängig ein. Demgegenüber veröffentlichte die American Nurses Association 1984 einige Prävalenzzahlen, die von 6 bis 8% betroffener Krankenschwestern und -pfleger ausgingen. Die wenigsten Untersucher konnten jedoch auf methodisch fundierte Untersuchungen eines gröberen Kollektives zurückgreifen. Trinkoff, Eaton und Antony haben 1991 erstmals eine Prävalenzstudie zum Problem stoffgebundener Abhängigkeit bei Pflegekräften durchgeführt. lm Rahmen des Epidemiologic Catchment Area Programm (ECA) führten sie eine Fragebogenuntersuchung bei Krankenschwestern und einer bezüglich Geschlecht, Alter und verschiedenen anderen Faktoren identischen Kontrollgruppe durch. Das Ergebnis dieser Studie zeigte, dass Krankenpflegekräfte kein erhöhtes Risiko bezüglich Drogen-, Medikamenten- oder Alkoholabhängigkeit haben als vergleichbare Bevölkerungskreise. Anzumerken ist hierbei, dass sich die Untersuchungen auf eine reine Fragebogenerhebung beschränkte, die gerade bei der Erforschung von Suchterkrankungen viele Unzuverlässigkeiten zeitigt.

Die Untersuchung einer klinischen Klientel ergab, dass im Zeitraum vom 1.1. bis 1.10.1991 insgesamt 26 Krankenschwestern und -pfleger 32mal auf den psychiatrischen Aufnahmestationen des Psychiatrischen Landeskrankenhauses Weißenau aufgenommen wurden.* Aus dieser Gruppe hatten nur 7 keinerlei Abhängigkeitsproblematik, jedoch 78% eine wahrscheinliche oder gesicherte stoffgebundene Abhängigkeit. Von den abhängigkeitskranken Pflegekräften war die größte Anzahl (knapp 50%) mehrfachabhängig, meist in der Kombination Alkohol und Medikamente. Dann folgte die Gruppe der nur Alkoholabhängigen. Drogeneinnahme verzeichneten wir bei 20% der Abhängigen. Sehr hoch lag auch der Anteil suizidal gefährdeter Krankenschwestern/Pfleger. 18mal fand sich ein Suizidversuch in der Vorgeschichte (Mehrfachzählung bei Wiederaufnahmen) und 6mal bestand eine erhebliche Suizidalität bei der jetzigen Aufnahme.

Abhängigkeitserkrankungen und Suizidalität stellen die hauptsächlichen Indikationen zur Aufnahme von Krankenschwestern oder Krankenpflegern in psychiatrische Institutionen dar. Wichtig ist auch festzuhalten, dass ein sehr wesentlicher Anteil der Erkrankten trotz zweifelsfreier Abhängigkeit nicht auf der Suchtstation sondern auf anderen Aufnahmestationen aufgenommen wurde.

Es wäre von Interesse festzustellen, wie weit die Befunde des PLK Weißenau mit denen anderer PLKs übereinstimmen, oder ob es sich bei den Aufnahmezahlen um eine außergewöhnliche Fallhäufung nur unserer Klinik handelt.

Klinische Beobachtungen

Die Entwicklung und der Verlauf einer Abhängigkeitskarriere bei den von uns behandelten Pflegekräften unterschied sich zunächst nicht grundlegend von den der Mitpatientinnen/Mitpatienten. Langjähriges Verheimlichen, Bagatellisieren, Abwehr von Hilfsangeboten und wiederholte Versuche, selbständig zu entziehen, kennzeichneten die vorklinische Phase bei fast allen. Nicht wenige hatten bereits einen oder mehrere Entzüge in Allgemeinkrankenhäusern hinter sich gebracht. Eine verschwindend kleine Anzahl kam zu uns aufgrund von Auflagen seitens der Pflegedienstleitung bzw. des Arbeitgebers. Für die Wahl gerade unserer Suchtbehandlungsstation spielten häufig régionale Besonderheiten eine Rolle. In aller Regel wählten die Betroffenen eine Einrichtung außerhalb ihres direkten Wohnbereiches aus, weil sie – sicherlich nicht ganz zu unrecht – die räumliche Nähe von Arbeitsplatz Krankenhaus und Therapieplatz Krankenhaus wegen der Schwierigkeiten, die Anonymität und Vertraulichkeit zu bewahren, vermeiden wollten. Trotzdem waren private Kontakte im Rahmen der Ausbildung, über bestimmte gemeinsame Fortbildungen und anderes zwischen den Schwestern und Pflegern unserer Aufnahmestation und den als Patienten kommenden Pflegekräften mehrfach festzustellen. Dies führte zu Schwierigkeiten der Abgrenzung und Rollenidentität, die jedoch durch offenes Ansprechen im Team getragen werden konnte.

In dringenden Fällen, in denen der Verbleib eines Abhängigen am Arbeitsplatz unzumutbar oder nicht verantwortbar war, kam es bevorzugt zur Vergabe eines kurzfristigen Aufnahmetermines.

Die Aufnahmesituationen unterschieden sich ansonsten kaum von denen der anderen Patienten. Die meisten abhängigen Pflegekräfte kamen genauso intoxikiert, genauso bagatellisierend und abwehrend auf uns zu wie andere Patienten. Entgegen unseren Erwartungen gab es keine gravierenden Unterschiede im Einhalten von Abmachungen oder Einhalten von Terminen. Offensichtlich war die psychische Not vor der Aufnahme bei den meisten so groß, dass sie trotz ihres wesentlich besseren Verständnisses innerklinischer Abläufe und der Wichtigkeit, getroffene Absprachen einzuhalten, hierzu wenig in der Lage waren.

Psychodynamik des ” gefallenen Engels ”

Die Beschreibung abhängiger Krankenschwestern/-pfleger als “gefallene Engel” stammt aus einer amerikanischen Arbeit. Außerordentlich plastisch drückt sie aus, wie die erheblichen Eigen- und Fremdidealisierungen des Pflegeberufes im Sinne selbstlosen Helfens zusammenprallen mit ebenso starken Selbst- und Fremdvorwürfen, wenn eine Abhängigkeitserkrankung bei einer Krankenschwester oder einem Krankenpfleger nicht mehr zu übersehen ist. Im Symptom der Alkohol- oder Medikamentenabhängigkeit zeigt sich die hohe Bedürftigkeit der kranken Person, die gerade in Pflegeberufen lange Zeit effektiv und gründlich verdrängt wurde. Die anfängliche narzisstische Befriedigung, kranken und hilflosen Menschen beistehen zu können, stabilisierte womöglich schon weit vor Ausbruch der Krankheit die mangelhaft balancierte psychische Innenwelt. Mit Fortschreiten der Abhängigkeitserkrankung verlor sich dann immer mehr die Befriedigung, helfen zu können, und die früher verdrängten Gefühle von Ohnmacht, Überforderung, aber auch die Wünsche nach eigener Triebbefriedigung, ließen die Betroffenen ihre Arbeit sehr viel weniger genußvoll und sehr viel mehr mit Anstrengung verbunden erleben. In fortgeschrittenen Stadien der Abhängigkeit findet sich weit verbreitet eine depressive Begleitsymptomatik; das innere Streben richtet sich auf die Unterdrückung der massiven Schuldgefühle und das äußere Handeln auf die Abwehr möglicher Vorwürfe und das schlichte körperliche und psychische Durchhalten im anstrengenden Arbeitsalltag, was jedoch immer weniger gelingen will. Schließlich prägen die von Schmidtbauer (1978) beschriebenen Prozesse den hilflosen Helfer.

Anders als beim Ausgebranntsein gelingt es den Abhängigkeitserkrankten jedoch nicht einfach, qualifizierte Hilfe zu suchen, da sic in den meisten Fällen durch ihre eigenen Schuldgefühle blockiert sind. Gerade bei Krankenschwestern und -pflegern sind hohe Ich-Ideale oft wesentlich für die Berufswahl und Quelle ausgeprägter Versagens- und Schamgefühle. Damit ist oft zugleich der Weg versperrt, die versteckte positive Botschaft der Abhängigkeit als indirekten Protest gegen eine einseitig auf das Helfen ausgerichtete Existenzform wahrzunehmen und entsprechende Veränderungsschritte einzuleiten. Der heftige Widerstreit zwischen dem bedürftigen Persönlichkeitsanteil abhängigkeitskranker Pflegepersonen und dem “Helfer-Anteil” wird häufig in der Therapie sichtbar.

Einerseits haben viele Helferpersonen Schwierigkeiten, die Rolle des Patienten für sich zu akzeptieren, sie benutzen auf der Station jede Gelegenheit, um ihre professionelle Hilfe gegenüber Mitpatienten anzubieten und so von ihrer eigenen Misere Abstand zu wahren. Eine qualifizierte Behandlung wird diese intrapersonellen Konflikte ansprechen und auch biographische Gegebenheiten einbeziehen. Oberproportional häufig findet sich bei Pflegekräften ein alkoholabhängiges Mitglied in der Herkunftsfamilie, so daß wir es mit erwachsenen Kindern von Alkoholikern zu tun haben.

Andererseits kostet es auch das therapeutische Team besondere Anstrengungen, den erkrankten Berufskollegen ihre Patientenrolle unmissverständlich immer wieder klar zu machen. Es wäre denkbar, dass uns als Behandelnden die Verwischung der klaren Grenze zwischen Patient und Helfendem insofern verunsichert, als die eigenen verdrängten Anteile von Bedürftigkeit, Abhängigkeitsgefühlen u. a. in Resonanz geraten und unser innerpsychisches Gleichgewicht labilisieren. Zudem bringt die Konfrontation mit Patienten, die oft kritisch, gelegentlich auch anklagend unsere Arbeit kommentieren und die gleiche berufliche Kompetenz wie die Helfer besitzen, bei diesen nicht eingestandene Unsicherheiten in pflegerischem oder therapeutischem Handeln zutage.

Verhalten von Kollegen und Pflegedienstleitung

Der Großteil der von uns behandelten Krankenpflegekräfte hatte beruflicherseits keine direkten Sanktionen erfahren. Obwohl davon ausgegangen werden muss, dass zumindest deutliche Verhaltensauffälligkeiten auch am Arbeitsplatz das Erkennen der Abhängigkeitsproblematik für Kolleginnen/Kollegen und Pflegedienstleitung ermöglicht hätten, kam es nur sehr selten zu entsprechenden Konsequenzen. Im Gegenteil, es gab sogar Belobigungen und Versetzungen in verantwortliche Stellungen. Dies bestätigt die Resultate von Bissel und Haberman (1984), bei denen drei Viertel der befragten Krankenpflegekräfte keinerlei kritische Hinweise während ihrer gesamten Abhängigkeitskarriere von seiten der Kollegen oder Vorgesetzten erfahren hatten. Offenbar bietet die hohe Fluktuation in den Krankenhäusern abhängigkeitserkrankten Pflegekräften gute Möglichkeiten, eine bestimmte Station oder eine bestimmte Klinik dann zu verlassen, wenn sie abhängigkeitsbedingt in ihrem Arbeitsverhalten zu stark auffällig werden. Eine andere, weniger drastische Möglichkeit ist die, sich von besonders belasteten Stationen oder vom Tagdienst in Arbeitsfelder zurückzuziehen, die weniger der direkten Kontrolle unterworfen sind, wie Spät- und Nachtschichten u. a.

Für Vorgesetzte oder leitende Krankenpflegekräfte ist es offenbar schwierig, aus der umsorgenden und helfenden Rolle auszusteigen, die zu ihrer Identität in der Krankenpflege gehören mag. Jedenfalls berichten Betroffene, dass sie von ihren Vorgesetzten viel zu lange gestützt und geschützt wurden, obwohl sic eigentlich vom Krankheitsverlauf fortgeschrittene Abhängigkeitsymptome wie gehäufte Fehlzeiten, Vergesslichkeit, Unpünktlichkeit und anderes aufwiesen. Bricht dann aber tatsächlich die Helferrolle auch des Helfenden zusammen, so schlägt die Nachsicht nicht selten in -besondere Härte um, und es werden drastische Sanktionen ergriffen. Dies veranlasste eine betroffene Krankenschwester zu der Äuflerung: “Viel zu lange pflegen wir einander, aber schließlich gehen wir über zur Lynchjustiz.” Sicherlich stehen Vorgesetzte in Pflegeberufen mit diesem Verhalten nicht allein. Vielmehr beschreibt es die Verhaltensweisen, die vor 20 Jahren auch in der Industrie gang und gäbe waren. lm Unterschied zu den bedeutenden Anstrengungen industrieller Führungskräfte, Alkoholismusprogramme in ihrem Betrieb auf den verschiedensten Ebenen zu installieren und den entsprechenden Fortbildungen und Schulungen, ist in der Krankenpflege hier ein erheblicher Mangel festzustellen. Auch heute noch trifft die Aussage von Münster (1986) zu, “dass die Strukturen unserer Krankenhäuser noch wenig Spielräume für einen offeneren Umgang mit den Problemen von Abhängigkeit und Missbrauch zulassen”.

Dabei sind in den USA ähnlich wie für Ärzte (Mäulen u. a. 1991) auch für Krankenpflegekräfte gut strukturierte Interventions- und Behandlungsprogramme entwickelt worden. Betroffene erhalten von den Pflegedienstleitungen und auch von den nationalen Verbanden (American Nurses Association) Unterstatzung und konstruktiven Druck, um gezielt gegen ihre Abhängigkeit vorzugehen. Die Erfolge sind eindeutig und beachtlich und sollten Nachahmern in Deutschland Mut machen. Immerhin gibt es mittlerweile auch bei uns einige Krankenhäuser, die “Alkohol am Arbeitsplatz Krankenhaus” sowohl durch Einführung entsprechender Betriebsprogramme wie auch und das ist noch viel wichtiger – mit tatkräftiger und kontinuierlicher Unterstützung der Krankenhausleitung erfolgversprechend angehen. Noch immer aber fehlen Fortbildungsangebote zur Schulung leitender Krankenpflegekräfte in diesen Fragen.

Abschließend ist festzuhalten, dass nach abgeschlossener Therapie suchtkranke Krankenpflegekräfte voll in ihr Berufsleben zurückkehren können und auch Führungsaufgaben bestens bewältigen. Darüber hinaus vermögen sie durch die Lektion ihres eigenen Lebens den nicht abhängigkeitserkrankten Kollegen und Helfern die Wichtigkeit, in positiver Weise für sich zu sorgen, stets neu nahe zu bringen.

Anmerkung * Aus methodischen Gründen wurden Altenpflege- und Kinderpflegekräfte hier nicht erfasst. Für die statistische Auswertung sei der EDV-Abteilung an dieser Stelle gedankt.

Literatur

  1. Bissel, L., Haberman, P. W. (1984): Alcohofism in the professions. New York
  2. Fengler, J. (1991): Helfen macht müde – Zur Analyse und Bewältigung von Burnout und beruflicher Deformation. München
  3. Herschbach, P. (1991): Stress im Krankenhaus – Die Belastungen von Krankenpflegekräften und Ärzten/Ärztinnen. Psychosom. med. Psychol. 41, 176-186
  4. Mäulen, B., Lasar, M.: Erwachsene Alkoholikerkinder. Krankenhauspsychiatrie 1, 101 – 105
  5. Mäulen, B., Gottschaldt, M., Feuerlein, W., Bonitz, G. (1991): Abhängigkeit bei Ärzten – eine klinische Studie. Münch. med. Wchschr. 133, 446-449
  6. Münster, W. (1986): Abhängigkeit und Missbrauch. Dt. Krankenpflegezeitschrift 10, 668 – 671
  7. Schmidbauer, W. (1978): Die hilflosen Helfer. Reinbek
  8. Sullivan, E., Bissel, L., Williams, E. (1988): Chemical dependency in nursing. Menlo Park
  9. Trinkoff, A., Eaton, E. M(., Anthoiiy, J. C. (1991): The prevalence of substanoe abuse among registered nurses. Nursing Research 40 (1991) 172-175

Bernhard Mäulen

Medikamentenabhängigkeit
Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.) ISBN 3-7841-0622-6