Helfende Berufe – Umgang mit Medikamenten und Medikamentenabhängigen

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1. Empirische Daten
Beginnen wir mit der Einstellung, die Helferinnen und Helfer zur Sucht haben. Die empirischen Daten zu dieser Frage stammen vorwiegend aus der Untersuchung von Ärztinnen und Ärzten. Reimer und Freisfeld (1984) konnten zeigen, dass Ärzte auf suchtkranke Patienten verurteilend und gereizt reagierten, sich aber zugleich ein untadeliges Verhalten im Umgang mit diesen Patienten attestierten vielleicht ein Hinweis darauf, dass manchen Ärzten die Abgrenzung gegen süchtiges Verhalten keineswegs leichtfällt.
Daß in dieser Hinsicht bei Ärzten ein Verleugnungspotential besteht und die eigene Gefährdung zugleich von manchen geahnt wird, lässt sich aus dem unter Ärzten kursierenden Aphorismus ahnen: “Ein Alkoholiker ist ein Mensch, der mehr trinkt als sein Arzt.” Entsprechend berichtete eine Kollegin mir einmal, was sie bei einer Exkursion mit Ausbildungskandidaten eines Instituts für Psychoanalyse in einer Suchtklinik beobachtete. Alle angehenden Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten reagierten auf die süchtigen Patienten höchst beklommen, mancher gewiss im Bewusstsein gelegentlichen eigenen unkontrollierten Alkoholgenusses. Aber am Ende der Exkursion landete die ganze Gesellschaft in einem gemütlichen Weinlokal, wo gut gegessen und reichlich getrunken wurde, und je weinseliger die Stimmung wurde, um so feindseliger und verächtlicher gerieten die Äusserungen aber die ,Alkies’, die man besichtigt hatte.

Alkohol-Erkrankungen sind nach Enzmann und Kleiber (1989) bei Ärzten 2,7mal so häufig wie bei Männern mit vergleichbarem sozialem Status. Diese und andere in die gleiche Richtung tendierenden Ergebnisse scheinen nicht mit dem erleichterten Zugang zu Drogen erklärbar. Denn Zahnärzte und Apotheker, für die dies ebenfalls zutrifft, weisen keine vergleichbare Prävalenz für erhöhten Drogenkonsum auf.

In einer Population von 617 Psychatrie-Patienten wurden besonders die 87 Ärzte untersucht. Unter den Patienten stellten sie ein signifikant höheres Kontingent dar, als es ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht. Sie wurden auch häufiger eingeliefert als Angehörige technischer Berufe. Auch unter den mehrfach eingewiesenen Patienten traten sie gehäuft in Erscheinung (Szefel 1982). Ehefrauen von 50 Ärzten, die sich in psychiatrischer Behandlung befanden, nannten als eigene Probleme Depressionen, Drogen- und Alkoholkonsum sowie psychosomatische Erkrankungen und erwähnten als Ursache am häufigsten die dauernde Abwesenheit ihrer Männer (Vincent 1969). Vaillant et al. (1972) verglichen 47 Ärzte mit 79 Patienten gleicher sozioökonomischer Stellung aus anderen Berufen. Die Ehen der Ärzte sahen dabei vergleichsweise unerfreulich aus, der Alkohol- und Drogenkonsum lag wesentlich höher als der der Vergleichsgruppe.

Andere Untersuchungen kamen zu anderen Ergebnissen. Pearson (1975) fand bei Ärzten eine unterdurchschnittliche Rate von Suchtabhängigkeit. Green et al. (1976) sowie Harris (1986) konnten bei abhängigen Ärzten, die eine Entziehung durchmachten, eine überdurchschnittliche Heilungsrate nachweisen. Der Konsum von suchterzeugenden Substanzen ist in vielfältiger Weise determiniert, so dass auch unter Helferinnen und Helfern, die in dieser Hinsicht anfällig sind, gewiss nicht eine einzige Ursache auszumachen ist, sondern eine Vielzahl unterschiedlicher Momente ursächlich sein kann. Als ein entscheidendes Ursachenbündel werden wir stets die Belastungen annehmen können und müssen, denen Helferinnen und Helfer in ihrer Arbeit ausgesetzt sind. Diese Spur will ich in einer weiteren Darstellung verfolgen weil unter diesem Aspekt verschiedener Helferberufe, also Ärzte generell, Psychiater, Psychologen und Psychotherapeuten, Lehrer, Sozialarbeiter, Berater und Theologen, gründlich untersucht worden sind.

2. Belastungsmomente im Leben von Helferinnen und Helfern

In welchen Regionen lohnt es sich nun, nach Helfer-Belastungen Ausschau zu halten, und wie sehen diese Belastungen aus? Ich habe in einer früheren Arbeit (Fengler 1991) fünf Belastungszonen unterschieden:

Zunächst ist die Selbstbelastung zu berücksichtigen. Helferinnen und Helfer haben manchmal ein überhöhtes Ideal des Helfens, dem sie auf Dauer nicht gerecht zu werden vermögen. Sie stehen unter Fortbildungsdruck und meinen, sich immer weiter qualifizieren zu müssen; vielen von ihnen fällt es schwer, sich angemessen von ihren Klienten und Patienten abzugrenzen. Manche spüren die Belastung, der sie ständig ausgesetzt sind, schon gar nicht mehr. Es fehlt ihnen also die innere Rückmeldung, und sie sind deshalb nicht imstande, der Belastung Einhalt zu gebieten.

Auch im Privatleben, also in Partnerschaft, Familie und Freundeskreis, sind Belastungsherde auszumachen. Viele Helfer ziehen in ihrer Partnerwahl und im Freundeskreis Hilfsbedürftige an sich, denen sie zuerst Hoffnungen machen und die später beginnen, Forderungen an sie zu stellen. Einige Helfer sehen, wenn es in der Partnerschaft zu Problemen kommt, die Ursachen hauptsächlich bei sich, statt die Lasten gleichmäßig auf die Schultern aller Beteiligten zu verteilen. Partnerschaften von Helfern stehen unter öffentlichem Erwartungsdruck: Sie sollten eigentlich gut sein – so denken Freunde und Bekannte. Der Begriff “Falsche Fürsorge” – man könnte auch sagen: übertriebene, unangemessene Fürsorge – bezeichnet die Neigung mancher Helferinnen und Helfer, sich den Kopf ihres Partners, Kindes oder Freundes über Gebühr zu zerbrechen.

Viele Belastungen gehen von Klienten und Patienten aus. Es gibt gierige, intrigierende, seelisch schwer kranke und unattraktive Klienten, ferner Abbrecher und Erfolglose, deren Verhalten und Schicksal den Helfer bis in die Freizeit hinein verfolgen. Solche Klienten machen schnell wechselnde Obertragungsangebote und konstellieren unlösbare Rollenkonflikte für ihn.

Auch das Team, in dem Helferinnen und Helfer arbeiten, trägt manchmal zur Gesamtbelastung bei. Das Team ist manchmal zu klein und manchmal zu groß; es ist unter Umständen ungünstig zusammengesetzt und unterstützt den einzelnen Helfer nicht hinreichend, oder es gibt nicht genügend Rückmeldung. Manchmal kommt es zu konzeptionellen Unvereinbarkeiten, die Diskussionen regelmäßig in Streitereien zu verwandeln vermögen.

Schließlich treten auch institutionelle Gegebenheiten als Belastungsmomente in Erscheinung. Dazu gehören z. B. Personalknappheit, hohes Klientensoll oder rascher Klientenwechsel. Manche Institutionen unterstützen die Helferarbeit nicht genug. Institutionelle Rollenkonflikte oder das Fehlen von Supervision können das ihrige dazu beitragen, dass der Helfer sich im Dauerstress befindet.

Diese Belastungen auf verschiedenen Gebieten sind im Prinzip normal und auch verkraftbar. Wenn sie sich aber kumulieren und über längere Zeit hinweg fortbestehen, so entwickelt sich daraus manchmal das, was in der Fachliteratur seit etwa 20 Jahren als Burnout, Ausbrennen oder Erschöpfungssyndrom bezeichnet wird.

3. Burnout

Das Burnout wird als schleichend beginnender oder abrupt einsetzender Erschöpfungszustand körperlicher, geistiger oder gefühlsmäßiger Art in Beruf, Freizeit, Freundeskreis, Partnerschaft und Familie beschrieben, oft verbunden mit Aversion, Ekel und Fluchtgedanken. lm Vorfeld ist dabei eine langandauernde Überforderung ohne angemessenes Korrektiv charakteristisch. Betroffen vom Burnout-Syndrom sind Sozialarbeiter, Fürsorger, Hauseltern in Kinderdörfern, Drogenberater, Personal von Beratungsstellen, Studentenberater, Sozialforscher, Organisationsberater und -trainer, Krankenschwestern, Gemeindeschwestern, Hauswirtschaftsleiterinnen, medizinisch-technische Assistentinnen, Leiter von Kliniken und Rehabilitationseinrichtungen, Ärzte und Zahnärzte, Krankenhausapotheker, Sprach- und Stimmtherapeuten, Beschäftigungstherapeuten, Psychotherapeuten, Pfarrer, Eltern und Therapeuten autistischer Kinder, Pflegepersonal geistig behinderter Erwachsener, Erzieherinnen, Lehrer, Erwachsenenbildner, Sporttrainer, Schulpsychologen, Anwälte, Polizisten, Gefängnispersonal, Stewardessen, Bibliothekare, Manager, Studenten und Arbeitslose (Burisch 1989, S. 10). Jedenfalls ist man in Untersuchungen bei ihnen allen in Hinsicht auf das Burnout bereits fündig geworden. Es besteht aber kein Zweifel, dass auch in anderen Berufsgruppen Burnout-Phänomene anzutreffen sind.

Die ganze Spannweite dessen, was heute unter Burnout verstanden wird, zeigt sich in einer Äußerung von Cherniss (1980; zit. n. Enzmann und Kleiber 1989, S. 19), die hier vollständig wiedergegeben wird: …. großer Widerstand, täglich zur Arbeit zu gehen; Gefühle des Versagens; Ärger und Widerwillen; Schuldgefühle; Entmutigung und Gleichgültigkeit; Negativismus; Isolierung und Rückzug; tägliche Gefühle von Müdigkeit und Erschöpfung; häufiges “Nach-der-Uhr-sehen”; große Müdigkeit nach der Arbeit; Verlust von positiven Gefühlen den Klienten gegenüber; Verschieben von Klientenkontakten; Widerstand gegen Anrufe und Besuche von Klienten; Stereotypisierung von Klienten; Unfähigkeit, sich auf Klienten zu konzentrieren oder ihnen zuzuhören; sich unbeweglich fühlen; Zynismus und tadelnde Einstellung den Klienten gegenüber; zunehmender Dienst nach Vorschrift; Schlafstörungen; Vermeidung von Arbeitsdiskussionen mit Kollegen; mit sich selbst beschäftigt sein; größere Billigung von Mitteln zur Kontrolle des Verhaltens (z. B. Tranquilizer); häufige Erkältungen und Grippe; häufige Kopfschmerzen und Magen-Darm-Beschwerden; Rigidität im Denken und Widerstand gegen Veränderungen; Misstrauen und paranoide Vorstellungen; exzessiver Drogengebrauch; Ehe- und Familienprobleme; häufiges Fehlen am Arbeitsplatz”.

Für mich haben sich in der Entwicklung des Burnout zehn Stufen als aussagekräftig erwiesen:

  1. Freundlichkeit und Idealismus
  2. Oberforderung
  3. geringer werdende Freundlichkeit
  4. Schuldgefühle darüber
  5. vermehrte Anstrengung
  6. Erfolglosigkeit
  7. Hilflosigkeit
  8. Hoffnungslosigkeit (“Ein Faß ohne Boden”)
  9. Erschöpfung, Abneigung gegen Klienten, Apathie, Aufbäumen, Wut
  10. Burnout: Selbstbeschuldigung, Flucht, Zynismus, Sarkasmus, psychosomatische Reaktionen, Fehlzeiten, große Geldausgaben, Unfälle, Dienst nach Vorschrift, Selbstmord, hastige Liebschaften ohne Liebe, Scheidung, plötzliche raptusartige Kündigung, sozialer Abstieg usw.

Auch ein Medikamentenmissbrauch von Helferinnen und Helfern kann als fehlgeschlagener Versuch betrachtet werden, mit dem Burnout umzugehen. Die Phasen folgen, wie dies in Prozessmodellen üblich ist, nicht mit unabweisbarer Zwangsläufigkeit aufeinander. Leserinnen und Leser mögen mehrere davon gleichzeitig an sich erkennen. Denkbar ist auch eine Rückkehr zu einer früheren Stufe von jedem späteren Punkt aus. Vielleicht fallen aber Umkehr und Neuorientierung um so schwerer, je weiter fortgeschritten die Entwicklung ist und zum Burnout hinzielt. Das beginnende Burnout bleibt übrigens am Arbeitsplatz in der Regel nicht verborgen, so dass eine entsprechende Ansprache oder Anfrage aus dem Kollegenkreis meist als sicheres Indiz dafür angesehen werden kann, dass ein Burnout droht.

4. Psychohygiene

Was ist zu tun? Im Leben des einzelnen ist oft der Tageslauf überprüfungsbedürftig: Was esse ich, was lese ich, wie gestalte ich meine Terminfolge, welche Sendungen sehe ich im Fernsehen? Der einzelne kann also prüfen, ob die Alltagsgestaltung vernunftgeprägt oder unsinnig ist.

Wenn man an Partnerschaft, Familie und Freundeskreis denkt, so geht es oft darum, Konfliktballast abzuwerfen und lebendige, tragfähige Vereinbarungen zu schließen. Familiärer Rückhalt ist eine der wichtigsten seelischen Stützen von Helferinnen und Helfern.

Es ist wünschenswert, dass Helferinnen und Helfer Einfluss auf Zahl und Auswahl der Klienten, die zeitliche Abfolge der Gespräche und die Gruppengrößen nehmen und sich hinreichende Erholungszeiten einrichten können. Die Belastung im Team ist geringer, wenn Helferinnen und Helfer Einfluss darauf nehmen können, mit wem sie zusammenarbeiten, und ein Klima gegenseitiger Unterstützung herrscht. Von seiten der Institution kann durch Mitbestimmung, Fortbildung und Supervision ein Beitrag zur Helferentlastung geleistet werden.

Literatur

  1. Burisch, M.: Das Burnout-Syndrom. Theorie der inneren Erschöpfung. Berlin, Heidelberg 1989
  2. Enzmann, D., Kleiber, D.: Helfer-Leiden. Heidelberg 1989
  3. Fengler, J.: Helfen macht müde. Zur Analyse und Bewältigung von Burnout und beruflicher Deformation. München 1991
  4. Greem, R. C., Carroll, G. J., Buxten, W. G.: Drug addiction ainong physicians: The Virginia experienoe. In: Journal of the American Medical Association, 236 (12) 1372 – 1357, 1976
  5. Harris, B. A.: Not enough is enough: The physician who is dependent on alcohol and other drugs. In: New York State Journal of Medicine, 86 (1), 2-3,1986
  6. Pearson, M. M.: Drug and alcohol problems in physiciens. In: Psychiatric Opinion, 12 (4), 14 – 18, 1975
  7. Reimer, C., Freisfeld, A.: Einstellungen und emotionale Reaktionen von Ärzten gegenüber Alkoholikern. In: Therapiewoche, 34 (22), 3514 – 3520, 1984
  8. Szefel, A.: Hospitalizacja psychiatryczna lekarzy i innych osob wyzszym wyksztalceniem. In: Psychiatria Polska, 16 (5 – 6), 383 – 388, 1982
  9. Vaillant, G. E., Sobowale, N. C., McArthur, C.: Some psychologie vulnerabilities of physiciens. In: New England Journal of Medicine 287 (8), 372 -375,1972
  10. Vincent, M. O.. Doctor and Mrs.: Their mental Health. In: Canadian Psychiatric Association Journal, 15 (5), 509-515, 1969

Jörg Fengler

Medikamentenabhängigkeit
Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.) ISBN 3-7841-0622-6