Ärzte und Sucht (kurze Übersicht mit Beispielen)
Was ist Ärztegesundheit? | Sucht | Stress | Ehen | Depression-Suizid | Behandlung | Start | Arztpersönlichkeit und Arztideal | Sexuelle Übergriffe | Der kranke Arzt | Lebensqualität | Alter | Tod und Sterben | Ärzte unter Anklage | Ärztinnen | Trauma und Gewalt | Finanzen | Selbstversuche | Fitness |
Wenn der Doktor eine Fahne hat | ||||||
Es geht Ihnen immer noch im Kopf herum: Ein neuer Patient ist heute in der Praxis gewesen, und beim Abschied hat er so nebenbei erwähnt: “Also, bei Ihnen fühle ich mich ja wieder gut aufgehoben, aber der letzte Doktor, der hatte immer eine ziemliche Fahne…” Vom Alkoholproblem des Kollegen hören Sie nicht zum ersten Mal. Wie sollen Sie sich nun verhalten? Stillschweigend drüber weggehen? Kammer oder KV informieren? MMW-Autor Dr. Bernhard Mäulen, Arzt und Psychologe, beleuchtet die diversen Aspekte der Sucht bei Ärzten.
Jeder kennt einen Arzt mit Suchtproblemen, viele sprechen über ihn, die Betroffenen selbst halten sich bedeckt. Sie arbeiten täglich in ihrer Praxis, fahren auf Hausbesuche, und das alles unter dem Einfluss von Alkohol und/oder Medikamenten. Die süchtigen Ärzte sind stark bemüht nicht aufzufallen, sie erkennen das Ausmaß des Problems nicht, und die Kollegen, die es mitbekommen, wissen oft nicht, was sie tun sollen. Dabei ist das Thema “Arzt und Sucht” längst kein Tabu mehr. Es gibt solide Erkenntnisse über arztspezifische Behandlungsprogramme, die auch in deutsche Lehrbücher Eingang gefunden haben. Zugleich ist die Wachsamkeit der Gesellschaft, der Verwaltungen in Krankenhäusern und auch die der Verkehrs- und Approbationsbehörden gegenüber süchtigen Ärzten gröber geworden. Das bedeutendste Hindernis für effektive Hilfe sind die – unbegründeten – Ängste der Betroffenen, durch ein Zugeben des Suchtproblems beruflich Schaden zu nehmen, und mangelnde Konfrontationsbereitschaft der indirekt Mitbetroffenen (Partner in der Praxis, befreundete Kollegen, Ehegatten etc.).
So tarnen sich trinkende Kollegen Sei es durch die persönliche Routine, durch die Qualität der Ausbildung, durch die Korrekturfunktionen von Kollegen oder Praxispersonal – über längere Strecken scheinen viele suchtkranke Ärzte nach außen wenig auffällig. Sie selbst merken sicherlich, wie dünn das Eis ist, die Angehörigen erkennen oft als Erste die sich abzeichnende Veränderung, aber am Arbeitsplatz hält die Maske. Oft gelingt es auch etwa einem alkoholkranken Arzt in fortgeschrittenem Krankheitsstadium, durch eine vierwöchige Abstinenz allen “Gegnern” zu beweisen, er könne nicht alkoholkrank sein. Viele wissen nicht, dass diese “Gegenbeweise” eine markante Alkoholkrankheit keineswegs ausschließen. Wenn also die üblichen Kennzeichen eines Abhängigen bei suchtkranken Ärzten kaum oder gar nicht anzutreffen sind, wie können wir abhängige Kollegen erkennen und ihnen helfen? Es gibt eine Reihe von Zeichen, die in Tabelle 1 aufgeführt sind. Generell sind folgende Auffälligkeiten wegweisend:
Alle oben genannten Zeichen sind keineswegs spezifisch, es können auch andere Gründe dahinter stehen (Trennung, Scheidung, Finanzprobleme etc.). Wenn ich aber im Rückblick auf viele Hundert Krankengeschichten abhängiger Ärzte die sich ergebenden Auffälligkeiten zusammenfasse, so überwiegt keineswegs der “asymptomatische” Verlauf, der nur von Personen mit akribischem Spürsinn hätte erkannt werden können! Nein, häufig gab es auch – zumindest punktuell – klare und eindeutige Hinweise, die für jeden Nichtmediziner ausgereicht hätten, in der Realität aber von Standeskollegen nicht beachtet oder aktiv vertuscht wurden. Wie reagieren die Kollegen, wie sollten sie reagieren? Bevor Sie weiterlesen, schlage ich ein kurzes Gedankenexperiment vor. Vergegenwärtigen Sie sich eine der folgenden Situationen, die Sie vielleicht erlebt haben:
Falls Sie solche oder ähnliche Situationen erlebt haben, erinnern Sie sich bitte: Wie haben Sie sich gefühlt? Was haben Sie unternommen? Haben Sie den betroffenen Kollegen direkt angesprochen? Blutprobe verschwinden lassen? Meist reagieren Kollegen mit:
Viele Verhaltensweisen ähneln denen von Koabhängigen. Gefühlsmäßig stehen dahinter Angst, ungeschriebene Gesetze von Kollegialität zu verletzen, für den gut gemeinten Hinweis attackiert zu werden sowie eine emotionale Lähmung durch die Unsicherheit, ob der Kollege wirklich abhängig ist. Diese Reaktionen sind jedoch wenig hilfreich und verlängern die Suchtkarriere der Betroffenen.
Wie sollten Sie reagieren? Die eigene Einstellung verändern: Erkennen Sie Suchtprobleme als ernste gesundheitliche Bedrohung für die Kollegen, als potentielle Gefahr für ihre Patienten und für das Ansehen der Ärzte.
Soll man Kollegen bei der Kammer melden? Wenn alle oben aufgeführten Schritte nichts nutzen, werden Sie sich fragen müssen, ob Sie aus der ärztlichen Verantwortung heraus und im Interesse des Kollegen und seiner Patienten eine Meldung an die Kammer abgeben. Dies ist sicher ein schwerer Schritt, der gut zu überlegen ist. Nicht wenige Kollegen halten die Meldung bei der Ärztekammer für sittenwidrig, für einen Verrat an der Kollegialität. Dagegen meine ich, dass die amerikanischen Kollegen (American Medical Association) recht haben, die es als ethische Pflicht sehen, suchtkranke Kollegen nicht ohne Intervention weiterarbeiten zu lassen, da es hier eine Gesamtverantwortung aller Ärzte gibt. Gegenwärtig ist in Deutschland jeder Arzt auf die persönliche Gewissensentscheidung zurückgeworfen. In einigen Kammerbereichen, etwa der LÄK Hamburg, erhalten Sie insofern Unterstützung, als die zuständige Kammer eine offizielle Stellungnahme abgibt, dass sie Kollegen, von denen sie erfährt, primär kompetente Hilfe anbietet und die Tätigkeit in der Praxis sowie die KV-Zulassung beschützt. Ich wünschte, dass alle Ärztekammern solche Hilfsprogramme starten und konkret sagen, an wen man sich wenden kann und wie die Schritte zur Hilfe aussehen. Kollegen brauchen eine Sonderbehandlung Die Standardverfahren (Entgiftung und Entwöhnung) können einzelnen Kollegen gewiss helfen, sind aber auf die Berufsgruppe bezogen nicht ausreichend spezifisch. Im normalen Behandlungssetting kommen abhängige Ärzte häufig in eine Sonderstellung zwischen Patient und Experte. Dies begünstigt ein Ausweichen, ein sich Einbilden “Meine Abhängigkeit ist weniger schlimm als die der anderen”, Gefährliche Rückfälle können die Konsequenz sein. Grundsätzlich sollte die Behandlung ausreichend lange und überwiegend stationär erfolgen. Die meisten Arztexperten plädieren für einen sechs- bis achtwöchigen stationären Aufenthalt, in dem Entgiftung und Entwöhnung stattfinden sollten. Die ambulante Arbeit ist in der Nachsorge sehr wichtig, kann aber die ausschließliche Beschäftigung mit sich und der Krankheit im stationären Rahmen nicht ersetzen. Ärzte sollten immer möglichst mit anderen Ärzten oder vergleichbaren Berufen zusammen behandelt werden. Dadurch wird ein Sonderstatus vermieden bzw. abgeschwächt. Ganz entscheidend ist die Möglichkeit einer schnellen Aufnahme, ansonsten besteht die Gefahr, dass der Abstinenzvorsatz nicht umgesetzt wird. In der Therapie sollte professionell vorgegangen werden, keine Erleichterungen, keine Befreiung von Screenings und anderen Kontrollen. Dies verlangt hohes Stehvermögen vom Behandlungsteam; die Erfahrung zeigt, dass Selbstmedikation, Täuschungsmanöver sowie das Einschmuggeln von Suchstoffen in die Klinik bei Ärzten genauso vorkommen wie bei anderen Abhängigen. Frühzeitig sollten die Schwierigkeiten der Doppelrolle Arzt und Patient angesprochen werden. Bei allen Ärzten sollte man die Therapie, die Krankheit Sucht und ihre Auswirkungen erklären. Wenn wir selbst betroffen sind, können wir das gelernte Wissen oft nicht auf uns anwenden, nicht selten verstärkt es eher die Uneinsichtigkeit im Sinne einer intellektuellen Abwehr. Besonders im niedergelassenen Bereich arbeiten viele Angehörige mit in der Praxis. Die Einbindung dieser Mitbetroffenen in die Therapie mittels Paargesprächen/Familiengesprächen gibt oft wichtige Anhaltspunkte und Hilfestellungen für die Nachsorge.
70% werden trocken Die erzielbaren Abstinenzraten für abhängige Ärzte sind hervorragend. Sowohl national wie auch international haben arztspezifische Behandlungsprogramme eine überdurchschnittliche Erfolgsquote von ca. 70% Abstinenz in den ersten Jahren nach stationärer Behandlung. Mit der wichtigste Faktor für eine längere Abstinenz ist die ambulante Nachsorge, möglichst bei einem Arzt bzw. Therapeuten, der die Besonderheiten der Sucht bei Ärzten kennt. Die meisten Kollegen gehen nach der Therapie zurück in eine sehr anstrengende Tätigkeit, sie haben enorme Ängste, wegen ihrer Sucht Nachteile zu erleiden oder weniger angesehen zu sein. Das familiäre Zusammenspiel ist oft zunächst schwierig. Die Aufrechterhaltung der Abstinenz erfordert Zeit und Anstrengung, die zusätzlich aufgebracht werden müssen. In den ersten sechs bis zwölf Monaten besteht daher eine erhöhte Rückfallgefährdung, weshalb in dieser Zeit unbedingt eine ambulante Begleitung gewährleistet sein muss.
Kosten und Ängste Die größte Angst vieler abhängiger Kollegen vor einer Behandlung ist die, berufliche Nachteile zu erlangen. Diese Angst ist unbegründet! Ohne eine spezifische Suchtbehandlung ist die Wahrscheinlichkeit, durch den fortgesetzten Konsum solche Nachteile zu erleiden, sehr viel höher. Eine Therapie hat gute Erfolgsaussichten und senkt das Risiko beruflicher Komplikationen eindeutig und nachweisbar. Die arztspezifischen Behandlungen sind i. d. R. nicht billig, häufig werden die Kosten zu einem hohen Teil von Krankenkassen, Ärzteversorgung, Beihilfe oder ähnlichen übernommen. Einschnitte gibt es jedoch beim Tagegeld, das meist nicht oder nicht in voller Höhe ausbezahlt wird, so dass es für die Niedergelassenen durchaus finanzielle Belastungen gibt. Mit der schrittweisen Umsetzung der Empfehlungen der Bundesärztekammer durch die einzelnen Landesärztekammern werden in der Zukunft besser informierte Ansprechpartner bei den LÄK sitzen und erkrankten Kolleginnen und Kollegen helfen. Behandlungsangebote für suchtkranke Ärzte gibt es in Deutschland mittlerweile ausreichend. Es lässt sich mit Worten kaum ausdrücken, wie viel an ärztilchem Können und Lebensqualität für die Betroffenen, ihre Familien und Patienten durch die Suchtmittelfreiheit erhalten werden kann. Dr. Bernhard Mäulen Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie MMW.Fortschr.Med. Nr-33-34/2000(142.Jg.)
Literaturliste
|